Fakt ist: Die Menschen in Deutschland werden immer älter. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden. Das Bundesministerium für Gesundheit schätzt, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2060 auf 4,7 Millionen Menschen steigen wird – dann wären sechs Prozent der Gesamtbevölkerung auf Pflege angewiesen, doppelt so viele wie heute.
Doch wer soll die Pflege leisten? Bereits heute fehlen in der Pflegebranche Fachkräfte. Vor dieser und anderen Herausforderungen rund um das Thema „Pflege“ steht Deutschland nicht alleine, wie die Mitglieder des europäischen Netzwerkes Oikosnet „Gender&Justice“ bei ihrer Tagung im September in Nordirland feststellten. Vertreterinnen aus Akademien und Bildungsinstitutionen der Schweiz, den Niederlanden, Österreich, Norwegen, Irland und Deutschland diskutierten miteinander die globalen Herausforderungen, die sich in Bezug auf Pflege und Geschlechtergerechtigkeit stellen.
Ein Phänomen, das in den Niederlanden, Österreich, der Schweiz als auch in Deutschland sehr verbreitet ist, ist die Tatsache, dass Pflegebedürftige zunehmend zu Hause betreut und gepflegt werden wollen und auch werden. Da die Belastung der Pflegenden, meistens Frauen, durch Berufstätigkeit und die Sorge um die Kinder bereits sehr stark ist, wird die Pflege für ältere Angehörige vermehrt an Hilfskräfte abgegeben. Frauen aus osteuropäischen Ländern werden zunehmend in besserverdienenden Familien als günstige Pflegekräfte beschäftigt, oft ohne Arbeitsverträge und ohne den seit Januar 2015 geltenden Pflegemindestlohn. Andere Frauen reduzieren ihre berufliche Arbeitszeit, um Angehörige zu pflegen, was wiederum erheblichen Einfluss auf ihre Renten und auch ihre Karrierechancen hat.
Die Teilnehmerinnen des europäischen Gender-Netzwerkes diskutierten auch Gabriele Winkers Buch „Care Revolution – Schritte in eine solidarische Gesellschaft“. Darin beschreibt die Autorin die gegenwärtige Situation in der Pflege als eine „umfassende Care-Krise“. Fachkräfte in Erziehung, Pflege und Betreuung seien überfordert, da sich ihre Arbeitsbedingungen stetig verschlechterten – durch Arbeitsverdichtung, Zeitdruck, Personalnot und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Auch im Privaten würden vor allem Frauen die Notlagen im Pflegesystem auffangen, nämlich durch unbezahlte Arbeit. Winker plädiert dafür, eine neue gesellschaftliche Kultur zu etablieren, in der die Sorge für sich und andere einen eigenständigen Stellenwert bekommt.
Am Ende der Tagung waren sich die Teilnehmerinnen einig: Die im Beruflichen wie im Privaten vornehmlich von Frauen geleistete Care-Arbeit brauche dringend mehr gesellschaftliche Anerkennung und Aufwertung sowie eine faire Bezahlung auf kommunaler, nationaler und europäischer Ebene. Denn mit Blick auf die demographische Gesamtentwicklung in Europa sei Pflege früher oder später für alle ein Thema.
• Die Autorin ist Fachbereichsleiterin im Frauenreferat der Evangelischen Kirche von Westfalen und war Teilnehmerin der Tagung in Irland. Weitere Informationen unter www.care-revolution.org.