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Mehr als Döntjes: 70 Jahre plattdeutsche Radioandachten

Der plattdeutschen Sprache wird nachgesagt, sie sei oft schlicht und deftig. „Aber sie bringt Dinge kurz und knapp auf den Punkt“, sagt Anita Christians-Albrecht. Die Pastorin arbeitet in Hannover im Zentrum für Seelsorge und Beratung und ist seit 1999 verantwortlich für die plattdeutschen Radioandachten auf NDR1 Niedersachsen. Seit dem ersten Advent vor 70 Jahren gehen die Beiträge zum Nachdenken und Schmunzeln von Montag bis Freitag über den Äther – zunächst vom Nordwestdeutschen Rundfunk – später dann von NDR1 Niedersachsen. Pünktlich um 14.20 Uhr tönt es aus dem Lautsprecher: „Dat kannst mi glöven!“

Die erste plattdeutsche Radio-Andacht der bundesdeutschen Geschichte sei am 1. Advent 1953 auf Sendung gegangen, berichtet Christians-Albrecht. Der damalige Initiator, Pastor Rudolf Muuß aus dem nordfriesischen Stedesand, habe sich gegen erhebliche Widerstände seiner Kirchenleitung durchsetzen müssen. „Dort war man der Ansicht, für die Verkündigung genüge Luther – auf Hochdeutsch.“ Doch der Erfolg der plattdeutschen Andacht war so groß, dass seither an jedem Werktag eine Ansprache auf Sendung geht.

„Mittlerweile zweifelt niemand mehr die Kraft und Klarheit dieser Sprache als Chance für die Verkündigung an“, sagt die Pastorin. In ihrer Direktheit spreche das Plattdeutsche Menschen persönlich an und bringe selbst theologisch Schwieriges auf den Punkt. Was die gebürtige Ostfriesin aus Ochtelbur bei Aurich damit meint, macht sie an einem Beispiel aus der Bibel deutlich. Dort sage der Apostel Paulus: „Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.“ Auf Platt klingt das so: „Gott hollt nix van Grootsnuten, man de minn van sük denken, de mag he düchtig lieden.“

Christians-Albrecht legt Wert darauf, dass die plattdeutschen Andachten mehr sind, als Heimattümelei, Döntjes oder Schenkelklopfer. „Wir erzählen von gelingendem Leben und wollen den Menschen Mut und Hoffnung zusprechen, mal sehr nachdenklich, mal mit ein wenig Humor. Denn das muss man sich zusagen lassen, das kann man nicht nur in sich selbst finden.“ Dabei gehe es immer wieder um aktuelle Themen. So seien etwa die Anschläge vom 11. September 2001 genauso in den Andachten besprochen worden wie der Überfall Russlands auf die Ukraine oder der Umweltschutz. Sie selbst gehört dem Sprecherinnenkreis seit 1997 an und leitet seit 1999 die Redaktion für die Andachten.

Nachwuchssorgen habe sie keine, sagt Christians-Albrecht. „Wir erleben gerade einen Boom von Interessierten.“ Erst kürzlich hätten sich zehn Männer und Frauen für ein Casting angemeldet, von denen nun vier für die Radioandachten geschult werden, denn: „Eine Radioandacht dauert nur 90 Sekunden. Da heißt es schnell und verständlich auf den Punkt zu kommen. Das ist echte Arbeit.“

Derzeit gehören dem Kreis der Sprecherinnen und Sprecher 24 Personen an. „Männer, Frauen, Ältere und Jüngere.“ So werde dem Wunsch des Senders entsprochen, dass die Stimmen von den Hörerinnen und Hörern wiedererkannt werden können. Doch die Vielfalt ist Christians-Albrecht wichtig: „Die Älteren sprechen ein selbstverständlicheres Platt. Die Jüngeren haben noch einmal ganz andere Themen. Die eigenen Zukunftsängste in der gegenwärtigen Krise spielen bei ihnen eine große Rolle.“ Da spreche beispielsweise ein etwas älterer Kollege in der einen Woche über das Glück einer Silbernen Hochzeit, während eine jüngere Autorin in der Woche darauf das Scheitern einer Beziehung nach zwei Jahren thematisiert.

Dass die Andachten gehört werden, zeigt sich vor allem am Donnerstag. „Dann können die Hörerinnen und Hörer nach der Sendung bei uns anrufen.“ Dann gebe es viel Lob und Zuspruch. „Aber oft ist dann Seelsorge gefragt.“ Es sei erschütternd, wie oft Männer oder Frauen anriefen, die völlig alleine lebten und sich einfach nur einmal unterhalten wollten, sagt die Theologin.