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“Man weiß nie genau, womit das anfängt”

Mit Scheuermilch und Drahtschwamm hocken drei Jugendliche vor den Messingplatten auf dem Gehweg nahe dem Osnabrücker Dom. Behutsam wischen die Abiturienten des Ratsgymnasiums über die Tafeln. Diese erinnern als Stolpersteine daran, dass im Haus dahinter einst Verfolgte des Hitler-Regimes lebten.

Langsam werden die Inschriften wieder sichtbar: Die Lebensdaten der jüdischen Familie Heymann, die in den 1940er-Jahren von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurde. „Dass hier in der Innenstadt fast vor jedem vierten Haus ein Stolperstein liegt, macht den Schrecken viel deutlicher als Zahlen“, sagt Steven Janssen (19).

Seit einigen Jahren reinigen Schülerinnen und Schüler in Osnabrück zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar die Stolpersteine vom Schmutz der Straßen. Sie setzen sich mit der Geschichte der Ermordeten auseinander und kommen mit Passanten ins Gespräch. Große Tafeln machen die Daten der Opfer lesbar. „Die Erinnerungskultur ist wichtig, damit nicht in Vergessenheit gerät, dass mitten in Europa Millionen von Menschen deportiert wurden“, sagt Simon Brakmann (19). Alle Menschen hätten eine große Verantwortung, dass so etwas nie wieder passiere. „Aber man weiß eben nie genau, womit das anfängt.“

Die Stolpersteine sind eine Idee des Künstler Gunter Demnig. Der Kölner erinnert an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbst gewählten Wohnort Betonwürfel mit einer zehn mal zehn Zentimeter großen Gedenktafeln aus Messing in den Gehweg einlässt. Den ersten Stolperstein hat Demnig im Dezember 1992 in Köln verlegt. Heute liegen mehr als 105.000 in 31 europäischen Ländern. Allein in Deutschland sind es gut 80.000.

Gerade vor dem Hintergrund des zunehmenden Rechtsextremismus sei es wichtig, dass die Steine die Erinnerung an die Zeit der Diktatur zwischen 1933 und 1945 wachhielten, sagt Katja Demnig, Geschäftsführerin der Stiftung „SPUREN – Gunter Demnig“ und Ehefrau des Künstlers. Sie findet es „unglaublich erfreulich“, dass immer häufiger Jugendliche in die Recherchen zu den Lebensdaten sowie die Verlegung und anschließende Pflege der Steine eingebunden würden. Damit könnten die Steine auf vielfältige Weise zur historisch-politischen Aufklärung und Bildung beitragen.

Auch den Schülerinnen und Schülern des Ratsgymnasiums ist die Aktualität des Themas bewusst. Rassistische Äußerungen kämen in ihrer Schule durchaus mal vor, erzählen sie. Meistens seien sie unbedacht oder scherzhaft gemeint, sagt Alexander Tautz (19). „Aber das verharmlost natürlich.“ Schlimmer findet er aber die wachsende Zustimmung für die AfD und dass Parolen wie „Ausländer raus“ auch schon mal ganz offen durch die Straßen gebrüllt würden.

Patricia Harmening (15) berichtet, sie hätten in ihrer zehnten Klasse über die Pläne von Rechtsextremisten gesprochen, Menschen mit Migrationshintergrund massenhaft aus Deutschland auszuweisen: „Dann wären bei uns von 21 Schülerinnen und Schüler nur noch acht übrig. Das hat uns echt erschreckt.“

Der evangelische Regionalbischof Friedrich Selter ist beeindruckt vom Engagement der Schülerinnen und Schüler. Der Theologe ist eigens gekommen, um ihnen zu danken und sie zur Teilnahme an der Demonstration gegen Faschismus und für Demokratie an diesem Samstag (27. Januar) aufzurufen. Er sei überzeugt, dass eine so tiefgehende Beschäftigung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus vor Rechtsextremismus schütze. Deshalb sei die Arbeit der Jugendlichen in dieser Zeit so besonders wichtig.

Er glaube zwar nicht, dass Rechtsextremisten sich von Demonstrationen und Stolpersteinen umstimmen ließen. „Aber es geht darum, die Abwehrkräfte zu stärken. Wir müssen zusammenhalten und lauter werden – für Menschlichkeit und Demokratie.“ Berenike Tloka (15) hat zum Abschluss noch eine optimistische Botschaft für den Regionalbischof. „Ich glaube an die Leute in meinem Land und daran, dass die Demokratie stark ist.“