Deutschland nach 1945, „Stunde Null“: Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, die Herrschaft der Nationalsozialisten Geschichte. Aber statt Terror und Gewalt regiert nun das Chaos. Mindestens 17 Millionen Menschen haben ihre Heimat verloren, irren durch ausgebombte Städte, über zerstörte Straßen und Wege. Schießereien und Plünderungen gehören zur Tagesordnung.
Dazu gesellt sich als eine Art Grundrauschen der Hunger. „Man sollte meinen, die Nahrungsversorgung in Europa hätte sich mit dem Kriegsende gebessert – aber vielerorts verschlechterte sie sich“, schreibt der britische Historiker Keith Lowe in seinem Panorama „Der Wilde Kontinent“ über „Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950“.
Zu Kriegsbeginn nahmen die Deutschen im Schnitt rund 2750 Kalorien am Tag zu sich. In der britischen Besatzungszone waren es im März 1946 noch 1014 Kalorien, rechnet Lowe vor. Man muss das alles kennen, um die inzwischen sieben Jahrzehnte alten Bilder zu deuten. Wie sich Knäuel von Menschen bilden, um ein paar Konservendosen zu ergattern. Meist Kinder und Frauen; die Männer waren im Krieg geblieben, höhere Nazi-Chargen untergetaucht.
Ein ganz besonderer Duft umgab die Pakete
Dass diese Lieferungen Deutschland überhaupt erreichen, ist Alfred Schneider und vielen anderen zu verdanken. Von 1948 bis 1953 ist der katholische Geistliche Deutschland-Direktor der National Catholic Welfare Conference (NCWC), einer Einrichtung der US-Bischöfe. Noch 1950 schafft der NCWC sogenannte Sachwerte von 2,5 Millionen US-Dollar nach Deutschland – nach heutigem Kaufwert etwa drei Millionen Euro. Eine andere Initiative, ebenfalls aus den USA, wird am Ende alles andere toppen: die Care-Pakete. Am 15. Juli 1946 landen die ersten „Liebesgaben“ in Bremen. Die Hansestadt wird zusammen mit Bremerhaven zur Drehscheibe der Transporte aus den USA.
Zum Care-Paket gehören anfangs beispielsweise 450 Gramm geschmortes Rindfleisch, ein Pfund gedörrte Aprikosen, ein Pfund Kaffee und zwei Stück Seife. „Schon der Duft, der das Paket umwehte, war unwiderstehlich: Wir Kinder rochen sofort den Kakao und die Schokolade heraus“, erinnert sich Schauspielerin Uschi Glas. „Dieser ganz besondere Wohlgeruch ist in mir gespeichert, verbunden mit dem Gefühl tiefer Dankbarkeit über die Großherzigkeit fremder Menschen.“
In der Tat kommt es einem Wunder gleich: dass da aus dem fernen Amerika Paket um Paket in jenem Land eintrudelt, das den Krieg entfesselt und dessen Volk neben vielen anderen Grausamkeiten die Ausrottung der europäischen Juden betrieben hatte.
Den Anstoß zu der Aktion geben Bilder des Elends aus Europa, die über den Atlantik gehen. Frauen, die mit ihren Kindern in Bunkern hausen, hohläugige Gestalten, die in Kirchen ohne Dach einen Gott um Erbarmen anflehen, der sich angesichts all der sinnlosen Grausamkeit des Krieges von der Menschheit abgewandt zu haben scheint. Ausgemergelte Alte, die in Müllkippen nach Essbarem suchen. Von einem „Armageddon“ sprechen entsetzte Soldaten der Alliierten in Anlehnung an die endzeitliche Entscheidungsschlacht in der Offenbarung des Johannes. Am 27. November 1945 formiert sich in New York ein Bündnis von 22 Hilfsorganisationen; auch Schneiders NCWC gehört dazu. Das gemeinsame Ziel: Lebensmittel an Bedürftige auf dem Alten Kontinent zu schicken.
Der Zusammenschluss nennt sich „Cooperative for American Remittances to Europe“ („Genossenschaft für amerikanische Sendungen nach Europa“), kurz Care. „Sorge tragen, sich kümmern“, englisch „to care“ – diese Losung machen sich bald Abertausende US-Amerikaner zu eigen. Sie übernehmen die Kosten für den Versand der Standardpakete und benennen den Adressaten in Europa. Care besorgt die Zustellung – anfangs Richtung Frankreich, bald darauf auch nach Deutschland. Keine leichte Aufgabe in Regionen, in denen Autos oder Eisenbahnen kaum mehr existieren, in denen ganze Stadtviertel in Trümmern liegen, Dörfer von der Landkarte ausradiert sind.
Trotzdem zieht die Hilfsaktion rasch Kreise. „Wir hatten bald 45 Familien mit regelmäßigen Paketen zu versehen“, schildert ein Spender aus den USA die Lage 1948. Außer Lebensmitteln kommen „die unmöglichsten erbetenen Artikel“ hinzu: Spritzen und Bohrer für einen Zahnarzt, Pinsel und Farbe, „Alarmuhren“, Kochtöpfe und Kleider. „Naturgemäß war mein Verdienst dafür nicht ausreichend, und die Ersparnisse waren bald aufgebraucht. Ich musste selbst eine Anleihe aufnehmen, und meine Frau nahm Näharbeit von einer Krawattenfabrik ins Haus.“
Auch für die gesamte Care-Aktion wird 1948 zu einem Bewährungsjahr. Während der Berlin-Blockade durch die Sowjets von Juni bis zum Mai 1949 versorgen die Westalliierten die Einwohner im Westen der Stadt über eine Luftbrücke. Mit an Bord: Care-Pakete. „Jedes der fünf Millionen Care-Pakete, die bis jetzt in Deutschland abgeliefert worden sind, hat mit dazu beigetragen, ein Band der Freundschaft zu schaffen“, hält ein bewegter Bundeskanzler Konrad Adenauer anschließend fest. Hinter den Kulissen hat es da allerdings schon Diskussionen über den künftigen Kurs gegeben.
Eine hauchdünne Mehrheit der Care-Mitgliedsorganisationen spricht sich dafür aus, Pakete künftig nicht nur an konkret benannte Adressaten weiterzuleiten, sondern allgemein an Bedürftige in Europa, wobei Helfer vor Ort die Zuteilung übernehmen sollen. Zu den Gegnern dieser Linie gehört der NCWC: Dadurch trete man zu den eigenen Hilfsangeboten in Konkurrenz, lautet die Begründung. Und so kommt es, dass in demselben Jahr, in dem Alfred Schneider Deutschland-Direktor des NCWC wird, seine Organisation aus dem Care-Verband ausscheidet.
Ein Gefühl der Dankbarkeit bleibt
Den Empfängern dürften solcherlei Querelen herzlich egal gewesen sein. Bis 1960 läuft die Initiative für Deutschland weiter. Was bleibt, ist ein Gefühl der Dankbarkeit, das bis auf den heutigen Tag anhält. Seit 1980 gibt es einen deutschen Ableger von Care. Die Hilfsbedürftigen von einst helfen seither den von Kriegen, Katastrophen und Hunger bedrohten Frauen, Männern und Kindern in anderen Teilen der Welt. Auch Care-Pakete werden weiter gepackt.
Alfred Schneider, der rastlose Diener des Herrn, starb 2009 im biblischen Alter von 96 Jahren. Das interessanteste am Priesterberuf sei der Kontakt mit den unterschiedlichsten Leuten gewesen, sagte er kurz vor seinem Tod. Schneiders persönlicher Einsatz, die Care-Pakete, aber auch die vielen anderen Hilfen, die Deutschland unverschuldet nach dem selbst verschuldeten Zweiten Weltkrieg erfuhr, mögen ein hoffnungsvolles Zeichen sein: dass Menschen selbst in dunklen Zeiten zur Sorge um den Nächsten fähig sind.