Der Begriff der “Aufarbeitung” von Missbrauch wird oft verwendet. Doch ist damit nicht immer eine heilende Wirkung für Betroffene verbunden. Manche empfinden kirchliche Versuche, etwas zu heilen, als neuen Übergriff.
Nach Ansicht des württembergischen Landesbischofs Ernst-Wilhelm Gohl hat die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der Kirche für Betroffene nicht automatisch eine heilende Wirkung. “Aufarbeitung bedeutet nicht Heilung oder Wiederherstellung”, sagte Gohl laut Redemanuskript am Freitag in Stuttgart vor der Landessynode. Das könne es zwar in einzelnen Fällen geben, es sei aber als grundsätzliches Ziel unrealistisch, sagte Gohl.
“Wir müssen auch akzeptieren, dass Betroffene mit der Kirche gebrochen haben oder sich nicht mit unseren Bemühungen zufriedengeben”, so der evangelische Landesbischof. “Alle Versuche, hier etwas heilen zu wollen, werden als neuer Übergriff empfunden.”
Gohl betonte zudem, dass Missbrauchsaufarbeitung nicht rasch vonstattengehen werde: “Aufarbeitung ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf.” Das wisse man etwa aus der Aufarbeitung der NS-Zwangsarbeit. Man sei in der Kirche schon dann ein großes Stück weitergekommen, “wenn es uns gelingt, Strukturen zu identifizieren, die Missbrauch ermöglichen, wenn es uns gelingt, gute Präventions- und Schutzprozesse zu etablieren, erlittenes Leid anzuerkennen und für diese Fragestellungen umfassend zu sensibilisieren”, so Gohl.
“Unabhängig von all diesen Anstrengungen fordern wir ein staatliches Gesetz zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, damit ein Standard definiert wird, der für alle gleichermaßen gilt”, sagte Gohl weiter. “Jede Form des Missbrauchs – sei es in Kirche, in Vereinen, in Kultureinrichtungen, in Schulen und Universitäten oder in der Familie – ist ein Missbrauch von Macht”, betonte der Landesbischof.
Die Forum-Studie zu sexueller Gewalt in der evangelischen Kirche spreche von “pastoraler Macht”. Diese “besondere Gefährdung” gelte es in Angeboten der Ausbildung, Fortbildung und Weiterbildung zu behandeln. Im März 2023 gab es in der Landeskirche dazu den Fachtag “Toxische Theologie”. Die danach eingerichteten Arbeitsgruppen würden im Frühsommer erste Ergebnisse präsentieren, kündigte Gohl an.