Kosovo hofft einen EU-Beitritt in absehbarer Zeit. Aber noch gibt es Hürden; vor allem eine schwache Wirtschaft und der Dauerkonflikt mit dem Nachbarn Serbien halten das Land fest. Ein Besuch in der Westbalkan-Republik.
Junge Paare flanieren über den Boulevard, vorbei an Cafes, wo Gäste ihre Macchiatos schlürfen. Dazwischen hasten Geschäftsleute in Anzügen zum nächsten Termin. Paris? Rom? Im Prinzip könnte es jede europäische Hauptstadt sein. Doch die Sonderkennzeichen der vorbeijagenden Autos deuten auf einen anderen Ort hin: “KFOR” ist dort zu lesen, “EU” oder “OSCE” – sie versprechen Friedenserhalt bis hin zum Traum eines gemeinsamen Europa. Vergangenheit und Zukunft. In Pristina im Kosovo prallen die Extreme aufeinander und haben 15 Jahre nach Ausrufung der Unabhängigkeit von Serbien eine einzigartige europäische Nation auf dem Westbalkan geschaffen. In den kommenden Jahren will die Republik auch politisch Teil des Kontinents werden.
“Die Regierung sollte weniger Gebäude aus dem Boden stampfen und mehr in die Köpfe investieren”, sagt der Taxifahrer in der Hauptstadt – und fügt in akzentfreiem Deutsch hinzu: “Wie heißt das bei euch? Ausbildung.” Er ist nicht älter als 30. So wie etwa die Hälfte seiner Landsleute. Jeder dritte Kosovare ist unter 18 Jahre alt. Zugleich herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von 19 Prozent. Immer mehr junge Kosovaren fragen sich: Wieso für einen Monatslohn von gut 500 Euro arbeiten, wenn man in Wien, Berlin oder Basel mehr als das Vierfache verdient? An Angeboten für Deutschkurse mangelt es in Pristina nicht.
Auch Tomas Szunyog kennt die schwierige Lage. “Die Bevölkerung ist nicht nur jung, sondern auch bildungshungrig”, erzählt der EU-Botschafter im Besprechungszimmer hinter der Sicherheitsschleuse. Ein wachsender Sektor, mit dem die Jugend vom Kosovo aus Europa und andere Staaten bedienen könnte, sei etwa die IT-Branche. Allerdings reiche ihr Beitrag allein noch lange nicht aus, weiß der tschechische Diplomat: “Kosovos Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei 27 Prozent des EU-Durchschnitts. Das muss sich ändern.”
Gemeinsam mit fünf weiteren Westbalkan-Staaten, die bereits Beitrittskandidaten sind, will der Kosovo in die EU. Ab 1. Januar können Kosovaren bald erstmals visafrei in den Schengen-Raum reisen – zumindest als Touristen für maximal 90 Tage. Bis zu einem Beitritt könnten freilich noch Jahre vergehen.
Größter Stolperstein, neben der schwachen Wirtschaft, ist immer noch der Streit mit Serbien. Der große Nachbar beansprucht den Kosovo immer noch als sein Territorium. Die Vermittler in Brüssel, die bei der “Normalisierung” der zwischenstaatlichen Beziehungen aushelfen, machten in den vergangenen Jahren nur mäßige Fortschritte. Bei einem Besuch in Wien betonte Kosovos Regierungschef Albin Kurti vor zwei Wochen: “Serbien will gar keinen Frieden in der Region.” Ähnliches unterstellt Belgrad der Regierung in Pristina.
Immer wieder belastet die politische Auseinandersetzung auch das Zusammenleben im Kosovo: 93 Prozent sind ethnische Albaner, 1,5 Prozent Serben. Dieses Jahr hätten es politische Fanatiker beinahe geschafft, den schwelenden Konflikt erneut eskalieren zu lassen. Im Mai verletzten ethnisch serbische Demonstranten mehrere Nato-Friedenssoldaten mit Sprengkörpern, als sie sich gegen die Einsetzung ethnisch albanischer Bürgermeister wehrten.
Und vor zwei Monaten töteten Extremisten einen kosovarischen Polizisten, ehe sie bei einer stundenlangen Schießerei nach Serbien flohen. “Aber die Menschen vor Ort, Serben und Albaner, wollen keinen Konflikt”, betont Dode Gjergji. Laut dem einzigen katholischen Bischof im Land ist der Großteil der Kosovaren längst in der “neuen politischen Realität” angekommen: “Sie sind bereit, zusammenzuleben und eine Zukunft aufzubauen.”
Allerdings: Eine Zukunft auf blutgetränkter Erde aufzubauen, ist schwierig. 1998/99 hatte im Kosovo die Kosovarische Befreiungsarmee (UCK) gegen serbisch-jugoslawische Kräfte gekämpft. Heute noch gelten mehr als 1.600 Menschen als vermisst. “Die Angehörigen leben nicht nur mit dem Schmerz, viele stehen dadurch auch vor wirtschaftlichen Herausforderungen”, berichtet Agim Gashi, Missionschef des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), das die kosovarische Regierung bei der Lokalisierung von Gräbern und der Identifizierung der Leichen unterstützt.
An die Politiker appelliert er, das Problem als humanitäre Angelegenheit zu behandeln, nicht als Politikum. Zeugen müssten Hinweise auf die letzten verbleibenden Grabstätten liefern: “Die Familien haben eine Antwort verdient”, so Gashi. Massengräber im Wald, Skelette in Gruben – es sind Bilder, die nicht zu den manikürten Alleen und Hochhäusern Pristinas passen. Trotzdem sind sie ebenso kosovarische Realität wie der Streit mit Serbien. Was diesen angeht, ist EU-Botschafter Szunyog optimistisch: Beide Regierungen seien sich im Klaren, dass es ohne Beilegung keinen EU-Beitritt geben werde.