Der Ukraine-Krieg beeinträchtigt das Leben nicht nur in den Städten des Landes. Selbst in den kleinsten Dörfern der Region Charkiw liegen die Nerven blank. Besonders gefürchtet: von Russland angeworbene “Korrigierer”.
Langsam rattert der blaue Nahverkehrszug über das Bahngleis eines kleinen Dorfes im ukrainischen Gebiet Charkiw. Diese Durchfahrt ist das einzig Nennenswerte, was in dem Ort täglich passiert. Hier kommt die Schrankenwärterin noch persönlich ans Gleis, um Fahrgästen mitzuteilen, dass der Zug Verspätung hat.
Auch an diesem Wintermorgen scheint die Welt in Ordnung zu sein. Die Schranke geht hoch – und zwei Autos setzen sich wieder in Bewegung. Nur ein Fußgänger bleibt stehen, sieht verträumt dem Zug hinterher, bis dieser zwischen zahllosen Fichten verschwindet.
“Was machen Sie da?”, brüllt die Wärterin im orangefarbenen Jäckchen – sichtlich aufgeregt – von ihrem weißen Türmchen herunter. “Nichts, ich schaue einfach nur so”, antwortet der Passant. “Machen Sie, dass Sie weiterkommen!”, entgegnet sie.
Die Szene zeigt, dass der anhaltende Ukraine-Krieg sogar in der beschaulichen Dorfgegend angekommen ist. Die Angst vor den “Korrigierern” in den eigenen Reihen ist groß. Als solche werden in der Ukraine Menschen bezeichnet, die den russischen Geheimdiensten Standortangaben über militärische Objekte durchgeben. Mit dem Ziel, russische Angriffe zu korrigieren – die Luftangriffe eben zielgenauer zu machen.
Und so ist man überall auf der Lauer nach den “Korrigierern”. Die Nerven liegen blank. Der Fußgänger, der offensichtlich kein Einheimischer ist, gilt schon als verdächtig. Immer wieder werden in und um die Großstadt Charkiw Personen festgenommen, denen vorgeworfen wird, im Auftrag Russlands relevante Ziele auszukundschaften. Wer etwa Gebäude – auch bereits zerstörte – fotografiert, muss unmittelbar mit harschen Reaktionen rechnen.
Die Charkiwer TV-Journalistin Ksenia Necheporenko weiß das. Darum hat sie stets ihre ukrainische Militärakkreditierung dabei, wenn sie Kriegsschäden im Stadtzentrum dokumentiert. “2022 und 2023 hat der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU fast jeden Tag zwei bis drei Personen festgenommen, die die Geodaten von militärisch wichtigen Standorten nach Russland weitergemeldet haben”, erläutert sie. Bis jetzt würden immer wieder “Korrigierer” in Gewahrsam genommen.
In der Regel, so Necheporenko, gehe der russische Geheimdienst bei der Anwerbung folgendermaßen vor: Über Bots beim Messaging-Dienst Telegram werden Ukrainer ausfindig gemacht, die zu einer Zusammenarbeit mit Russland bereit sind. Diese Personen übermitteln die Geodaten relevanter militärischer Objekte nach Russland. Dann beschießt die russische Armee das Ziel mit einer Rakete oder einer Drohne.
Nach der Zerstörung fotografiert der “Korrigierer” den Tatort, um seinen Auftraggebern zu beweisen, dass der Einsatz erfolgreich war. Dann bekommt er oder sie das Geld. Erleichtert wird das Prozedere durch anonyme Überweisungen, die in der Ukraine – anders als in Deutschland – problemlos möglich sind.