Die Landeskirchen und die Diakonie in Nordrhein-Westfalen haben erschüttert auf die Ergebnisse der bundesweiten Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche reagiert und weitere Maßnahmen zu Aufarbeitung und Prävention angekündigt. Der rheinische Präses Thorsten Latzel sprach am Donnerstag von einem institutionellen Versagen. Auch Diakonie-Vorständin Kirsten Schwenke sagte: „Kirche und Diakonie haben gegenüber ihnen anvertrauten Menschen versagt.“ Für den Theologischen Vizepräsidenten der westfälischen Kirche, Ulf Schlüter, bietet die Studie eine neue Grundlage für weitere systematische Aufarbeitung. Ähnlich äußerte sich der lippische Landessuperintendent Dietmar Arends.
Der unabhängige interdisziplinäre Forschungsverbund „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen“ (ForuM) stellte am Donnerstag seine 871 Seiten umfassende Untersuchung vor. Demnach gab es in der evangelischen Kirche und in Einrichtungen der Diakonie weit mehr sexualisierte Gewalt als bislang angenommen. In der Studie ist die Rede von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern. Erstellt wurde sie Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
„Wir müssen vor allem den Betroffenen gut zuhören, um das erlittene Unrecht in seiner ganzen Dimension begreifen zu können“, sagte der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Latzel. Sein Stellvertreter Christoph Pistorius erklärte, die Maßnahmen zur Prävention und Intervention in Kirche und Diakonie müssten nun überprüft und gegebenenfalls nachjustiert werden. Die spezifische Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt erfolge in einer regionalen Aufarbeitungskommission der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL) und der drei Landeskirchen in Rheinland, Westfalen und Lippe.
In der rheinischen Kirche sind seit 1946 insgesamt 70 Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt aus Akten bekannt, bei einer 2021 eingerichteten Meldestelle gingen 76 Verdachtsmeldungen ein. Finanzielle Anerkennungsleistungen wurden bisher in 29 Fällen bewilligt, das entspricht einer Summe von 415.000 Euro. Aus dem Bereich der Diakonie RWL kommen bezogen auf das Gebiet der rheinischen Kirche weitere 131 Fälle mit einer Gesamtsumme von knapp zwei Millionen Euro.
Die Evangelische Kirche von Westfalen stellte für die EKD-weite Studie Daten über 110 Beschuldigte und 251 Betroffene aus dem Zeitraum von 1946 bis 2020 zur Verfügung. Bislang wurden Anerkennungsleistungen in Höhe von 585.000 Euro gezahlt, etwa je zur Hälfte für den Bereich der verfassten Kirche und das westfälische Gebiet der Diakonie. Der kommissarische leitende Theologe Schlüter nannte als wichtigstes Ziel der künftigen Prävention und Intervention, dass kirchliche Räume in Zukunft überall und für alle Menschen sichere Orte sind.
Die Lippische Landeskirche meldete nach eigenen Angaben acht Vorkommnisse aus den vergangenen Jahrzehnten für die EKD-Studie, zwei weitere Verdachtsfälle würden aktuell aufgearbeitet. Die nun vorliegende Studie sei eine wertvolle Grundlage, systemische Schwachstellen zu erkennen und die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, sagte Landessuperintendent Arends. „Gemeinsam wollen wir Verantwortung übernehmen und den Umgang mit sexualisierter Gewalt sensibel und mit höchster Sorgfalt gestalten.“
Kirsten Schwenke, Vorständin der Diakonie RWL, kündigte ebenfalls eine kritische Reflexion der Strukturen an. „Wir erkennen das Leid der betroffenen Menschen an und bitten sie um Entschuldigung“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Seit der Einrichtung der Fachstelle zum Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung (FUVSS) im Jahr 2013 gingen auf dem Gebiet der Diakonie RWL 302 Anträge auf Anerkennung von Leid ein. Bislang wurden Anerkennungsleistungen in Höhe von insgesamt 2,8 Millionen Euro gezahlt, die einzelnen Zahlungen lagen zwischen 5.000 und 50.000 Euro.
Für die ForuM-Studie, die den Zeitraum bis 2020 umfasst, lieferte die Diakonie RWL 167 Fälle aus ihrem Bereich zu, in denen insgesamt 845.000 Euro an Anerkennungsleistungen gezahlt wurden.