Artikel teilen:

Kinder als Privatsache

Sind Kinder in Deutschland ausreichend vor gewalttätigen Eltern geschützt? Jugendämter kämpfen beim Kinderschutz mit schwierigen Rahmenbedingungen

nadezhda1906 - Fotolia

Die aufsehenerregenden Fälle misshandelter oder vernachlässigter Jungen und Mädchen scheinen zu belegen: Jugendämter kommen bei Problemen in den Familien häufig zu spät. Da ist nicht nur der Fall des dreijährigen Alessio aus dem badischen Lenzkirch, der mutmaßlich von seinem Stiefvater mit Schlägen getötet wurde. Auch die Fälle von Jessica, Chantal oder Kevin haben eins gemeinsam: Die Kinder kamen in ihren Familien ums Leben. Nehmen die Behörden warnende Hinweise nicht ernst genug? Doch, sagen Experten. Und räumen zugleich ein: Nicht selten sind Mitarbeiter durch eine Vielzahl von Fällen überfordert.
Der Familienrechtler Ludwig Salgo sieht hier keinen generellen Trend. „Diese Fälle charakterisieren nicht den Alltag von Jugendämtern und Familiengerichten“, betont der Professor, der an der Goethe-Universität Frankfurt am Main lehrt. Zumeist bewirkten die staatlichen Behörden durch ihr Einschreiten sehr wohl, dass bedrohte Kinder „aus der Gefährdungszone“ kämen, sagte Salgo auf einer Tagung in Berlin.
Der Leiter des Jugendamts Berlin-Neukölln, Axel Hoppe, macht darauf aufmerksam, dass die Ämter teilweise an ihren Kapazitätsgrenzen arbeiten. Aus Überlastung könnten sie nicht immer optimal auf mögliche Gefährdungen reagieren. „Wir haben es mit einer Überforderung bei Eltern und bei Mitarbeitern von Jugendämtern zu tun“, sagt Hoppe. Nur wenige Jugendämter in Deutschland hätten Obergrenzen für die Zahl der Fälle eingezogen, die ihre Mitarbeiter zu bewältigen hätten. 70 bis 120 Fälle pro Mitarbeiter seien jedenfalls zu viel, urteilt Hoppe.
Etwa 1200 konkrete Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen gibt es jährlich im Bezirk Neukölln. Beim dortigen Jugendamt ist ein Kinderschutzteam für alle neuen Fälle zuständig, für die laufenden Fälle gibt es acht Teams mit jeweils acht Mitarbeitern. Im vergangenen Jahr sind laut Hoppe in Neukölln 153 Kinder in Obhut genommen worden, wurden also zu ihrem Schutz vorläufig bei Familien oder in stationären Einrichtungen untergebracht.
Kooperieren die Eltern gar nicht mit dem Jugendamt und soll wegen einer Kindeswohlgefährdung in Erziehungsrechte der Eltern eingegriffen werden, muss das Familiengericht eingeschaltet werden. Es kann den Eltern teilweise oder vollständig das Sorgerecht entziehen und einen Pfleger oder Vormund bestellen. Laut Salgo hat sich sowohl die Zahl der Inobhutnahmen als auch die Zahl der Sorgerechtsentzüge bei Kindern unter sechs Jahren seit dem Jahr 2002 etwa verdoppelt. 2013 gab es bundesweit über 42 000 Inobhutnahmen. Die staatlichen Wächterinstanzen seien also nicht untätig, betont Salgo.
In der Bundesrepublik halte sich der Staat mit Eingriffen in Familienrechte generell eher zurück. Dagegen gebe es etwa in Dänemark oder Großbritannien schon seit Jahrzehnten Familienhebammen, die jedes Kind nach der Geburt im häuslichen Milieu aufsuchen. „In vielen Ländern begegnet uns ein unverkrampfteres Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft in der Sorge und Verantwortung um die nachwachsende Generation“, konstatiert der Familienrechtler Salgo. „In Deutschland sind Kinder nach wie vor Privatsache“, sagt er.
Kritisch äußert sich Salgo auch zur aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Während Karlsruhe lange Zeit ein vorbildlicher Verteidiger der Rechte des Kindes gewesen sei, werde vom Verfassungsgericht in jüngster Zeit das Elternrecht sehr stark betont. Diese „Störfeuer aus Karlsruhe“ hätten Gerichte und Behörden vor Ort verunsichert.
Dazu kommt das grundsätzliche Problem der schlechten Datenlage. Experten verweisen stets darauf, dass es in Deutschland eine systematische, umfassende empirische Dauerbeobachtung zum Ausmaß von Vernachlässigungen und Misshandlungen von Kindern bislang gar nicht gibt. Die Bundesinitiative Frühe Hilfen stellt dazu fest: „Empirische Aussagen zum Ausmaß der verschiedenen Gewaltformen gegen Kinder in Deutschland können nur eingeschränkt getroffen werden.“