Neulich saß ich in meinem Stammcafé in der Nachbarschaft. Die Sonne schien, und die Tische auf dem Trottoir waren voller Menschen, die die Sommerferien in Berlin genossen. Am Nachbartisch unterhielten sich zwei Paare über ein heikles Thema. Es wurde persönlich, denn sie sprachen über ihre Erfahrungen mit Kirche und Religion. Ich hörte Schlagworte wie „sexueller Missbrauch“, „Religionskriege“, „Kirchensteuer“, „Diskriminierung“ und „Absolutheitsanspruch“. Jeder brachte seine eigene Perspektive ein. Manches schien angelesen, anderes war persönlich erlebt. Obwohl sie unterschiedlichen Konfessionen angehörten, waren sie sich schnell einig: Die Kirchen haben abgewirtschaftet, und das Thema Religion sollte besser ignoriert werden.
Mein erster Gedanke war: „Die Religion, über die sie sprechen, möchte ich auch nicht. Das sind ja schreckliche Erfahrungen!“ Doch je länger ich dem Gespräch am Nachbartisch unfreiwillig lauschte, desto mehr wurde mir bewusst, dass sie bei einer Tasse Kaffee nonchalant Jahrhunderte unserer Sozial- und Kulturgeschichte sowie Jahrzehnte erfolgreicher Inkulturation andersreligiöser Gemeinden beiseite wischten. Das empfand ich als geschichtsvergessen und spießig. Schließlich lassen sich weltweit Milliarden von Menschen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln von ihrem Glauben leiten, der ihnen heilig ist.
Berlin ist eine religiös sehr vielfältige Stadt
„Ist es wirklich gut, das Kind mit dem Bade auszuschütten?“, überlegte ich. „Und worüber reden wir eigentlich genau, wenn wir über Religion sprechen?“ Religionen haben ja viele Facetten.
Da ist der individuelle Glaube, der die Seele nährt und Gemeinschaften in Bewegung hält; da sind religiöse Institutionen, die dazulernen und sich verändern; da sind die Gemeinden als Kulturträger und politischer Faktor. Kurz gesagt: Religionen sind die Gestaltgeber für die Offenbarung des Geistigen im Materiellen, wo auch immer und wie auch immer. Sogar in Berlin, möchte man hinzufügen!
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Ich fragte mich: „Wissen meine Nachbarn eigentlich, dass Berlin eine religiös äußerst vielfältige Stadt ist und all diese Facetten gleichzeitig zu beobachten sind?“ Wenn man denn mit eigenen Augen hinsieht und nicht mit den Augen anderer.
Nacht der Religionen in Berlin: 60 Gemeinschaften öffnen ihre Türen
Laut der Berliner Senatsverwaltung haben 250 christliche Konfessionen und andersreligiöse Gemeinschaften aus aller Welt in Berlin ihre Heimat. Neben christlichen Gemeinden aus der Region und dem Ausland gibt es ein reiches jüdisches Leben sowie zahlreiche muslimische Gemeinden, Buddhisten aller Couleur, Aleviten, Hindus, Sikhs, Bahá’í, Pagane und Jesiden sowie viele weitere, die in unserer Stadt ihren Glauben leben. Die ganze Welt ist in Berlin zu Hause!
Diese Vielfalt wird sichtbar. Einmal im Jahr findet die „Lange Nacht der Religionen in Berlin“ statt. In diesem Jahr, am Wochenende des 7./8. September, bereits zum 13 Mal. Rund 60 Gemeinschaften öffnen ihre Türen für Andacht und Meditation, Vorträge, Frage- und Antwort-Runden oder Musikdarbietungen. Das diesjährige Motto „Gleichgewicht“ kann auf das reiche religiöse Leben selbst angewandt werden: Lassen Sie uns dem Menschheitsthema „Religion“ gerecht werden und unsere Stadt in all ihren Facetten wahrnehmen!
Ich gebe es zu: Es ist schwer, Menschen, die sich von den Erfahrungswelten des stillen Gebets, von Ritualen oder Gottesdiensten entfremdet haben – sei es aus Schmerz, aus Trotz oder Ignoranz – die damit verbundenen Intentionen zu schildern. Die „Lange Nacht der Religionen“ macht es aber ein wenig leichter. Nutzen wir den Moment!
Die Programmübersicht: www.nachtderreligionen.de