Doku über eine sozialtherapeutische Wohngruppe in Brandenburg, in der Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen betreut werden.
Ein Tag in einer intensiv-pädagogischen Einrichtung geht zu Ende. Nach einer heftigen, lautstarken Auseinandersetzung ist es am späten Abend wieder still im Haus. Während die Kinder im Obergeschoss schlafen, sitzt der Erzieher Max Gerecke an seinem Schreibtisch und fertigt den obligatorischen Dienstbericht an: “Nach Abendbrot Streit beim Kartentausch, die Situation eskaliert. Kinder erst um 20.30 Uhr im Bett. Jugendamt Termin bestätigt, Teilnahme Kindsmutter unklar. Rufnummer nicht mehr aktiv.”
Keine “Ersatzeltern”, sondern ein “familiäres Konstrukt” nennt die Erzieherin Antje Wagner den sozialen Zusammenhang in der Wohngruppe. Fünf Jungen zwischen sieben und 14 Jahren sind temporär in der Einrichtung untergebracht; das geräumige Haus liegt am Ufer eines Sees in Brandenburg. Ein Schauplatz, den der Film gezielt als Idyll in Szene setzt.
Die drei Erzieherinnen und Erzieher arbeiten im Schichtdienst; sie müssen dabei ständig zwischen verschiedenen Rollen navigieren. Mal treten sie als Herbergsvater auf, mal als mütterliche Bezugsperson, doch vor allem sind sie Vermittler zwischen Vormund, Eltern und Jugendamt.
Sieht man von der förmlichen Anrede ab – die Kinder nennen die Pädagogen Herr Wagner, Frau Wagner und Herr Gerecke – unterscheidet die Gemeinschaft auf den ersten Blick wenig von einer normalen Familie. Ein Alltag aus gemeinsamen Mahlzeiten, Freizeitaktivitäten, Konfliktsituationen und Momenten von Unbeschwertheit. Doch spätestens, wenn die Mitglieder zum “Hilfeplangespräch” zusammensitzen, der Kontakt mit einem Elternteil sich mal wieder als schwierig gestaltet oder ein Klinikaufenthalt in die Wege geleitet wird, ist deutlich, dass sich jedes der Kinder in einer zum Normalzustand gewordenen Ausnahmesituation befindet.
Über ein Jahr lang hat Daniel Abma die Einrichtung mit der Kamera begleitet. Interviews mit dem Erziehungspersonal und aus dem Off verlesene Dienstberichte fügen seiner teilnehmenden Beobachtung eine stärker einordnende Perspektive hinzu. Der Dokumentarfilm “Im Prinzip Familie” gibt einen Einblick in die stationäre Kinder- und Jugendhilfe. Die Komplexität der Situation kann der Film aber nur begrenzt abbilden. Der filmische Radius endet im Schulbus; was im Unterricht passiert, bei Treffen mit dem Jugendamt oder im Gespräch mit der alleinerziehenden Mutter, liegt außerhalb des Films, bildet sich in seinen Nachwirkungen aber dennoch immer wieder ab.
Für die Kinder, deren Eltern es nicht “gewuppt kriegen”, wie es einmal heißt, und die vor Vernachlässigung, Überforderung oder vor Suchtverhältnissen geflohen sind, ist die Wohngemeinschaft meist die zweite oder dritte Station. Ihre Vorgeschichte wird nicht thematisiert; der Blick gilt ganz der Gegenwart und dem Miteinander von Kindern und Erziehern.
Die Geschlechterrollen sind hier noch ganz klassisch. Frau Wagner ist für die Kinder eine eher mütterliche Figur, zu der man auch mal Körperkontakt sucht. Die beiden männlichen Erzieher, darunter auch ein ehemaliger Berufssoldat, schlagen einen eher kumpelhaften Ton an und sind für das Markieren von Grenzen zuständig.
Der Film rückt zwei Kinder ins Zentrum. Kelvin, ein Junge mit kamerunischen Wurzeln, fällt immer wieder durch aggressives Verhalten auf. Seine Mutter hält den Kontakt nur unregelmäßig aufrecht, wachsende Sprachbarrieren vergrößern den Entfremdungsprozess. Dass er als schwarzes Kind auf dem Land in Brandenburg auffällt und Rassismus ausgesetzt ist, kommt als Belastung hinzu und wird als Faktor seiner Schwierigkeiten intensiv besprochen. Der andere Junge, Niklas, wirkt innerlich gefestigter. Sein Wunsch, die Einrichtung zu verlassen, um mit seiner Mutter und seinem Stiefvater zusammenzuleben, liegt aber zunächst noch in weiter Ferne.
Bilder des harmonischen Zusammenlebens, eines quasi-familiären Glücks, stehen in “Im Prinzip Familie” neben prekären Situationen. Die Kamera ist diskret; wenn es laut und heftig wird, bleibt sie vor der Zimmertür. Im Außenraum sucht sie auch mal postkartenartig die Ansicht von Vogelschwärmen oder im Gegenlicht schimmernden Spinnweben. Auch an Musikuntermalung wird nicht gespart. Das sind Gefühlsverstärker, die der Agenda, die “Im Prinzip Familie” verfolgt, vielleicht aber dennoch zuträglich sind.
Daniel Abma sieht den Film auch als Mittel, um für pädagogische und sozialtherapeutische Berufe zu werben. Er adressiert neben dem Kinopublikum auch Ausbildungsstätten, Schulen und politische Entscheidungsträger. Der Titel ist dabei durchaus programmatisch als Erweiterung des traditionellen Konzepts von Familie zu verstehen. Ein geborgenes Zusammensein auf Zeit: Auch das kann Familie sein.