Eigentlich sollte die Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler reine Routine sein. Doch es kam anders. Über einen Vormittag in Berlin, der in die Geschichtsbücher eingehen wird.
Kurz vor der Verkündung des Wahlergebnisses wird es am Dienstagvormittag plötzlich unruhig auf der Pressetribüne des Parlaments. Recht lange hat es gedauert, bis das Ergebnis verkündet werden soll. Und Bundestagspräsidentin Julia Klöckner schaut ernst und auch ein wenig irritiert: Es wird doch keinen zweiten Wahlgang geben?
Wenig später dann steht es fest: Der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz (CDU), hat 310 Stimmen erhalten, 316 wären nötig gewesen. Der CDU-Vorsitzende verfehlt die Kanzlermehrheit und ist damit der erste designierte Bundeskanzler, der nicht im ersten Wahlgang gewählt wurde. Ein historischer Moment – mit ganz konkreten Folgen im gut geölten Politikbetrieb der Hauptstadt.
Merz fährt zunächst nicht wie geplant ins Schloss Bellevue, um dort von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum zehnten Bundeskanzler ernannt zu werden. Er wird vorerst an diesem Tag auch nicht in den Plenarsaal des Bundestags zurückkehren, um vor Klöckner und allen Anwesenden den Amtseid zu leisten. Und auch die designierten Ministerinnen und Minister beginnen nicht ihre Amtszeit.
Die Fraktionen ziehen sich geschlossen zu Beratungen zurück. Nur die Reihen der AfD bleiben zum Teil gefüllt. Über Stunden ist der Plenarsaal recht leer. Wann und wie es weiter geht, bleibt zunächst unklar. Der bisherige Amtsinhaber Olaf Scholz verlässt den Sitzungssaal mit einem Kopfschütteln, er geht in eine Verlängerung. Und das, obwohl der SPD-Politiker am Abend zuvor mit dem Großen Zapfenstreich aus dem Amt verabschiedet worden war.
Es herrscht einigermaßen Fassungslosigkeit im Hohen Haus. “Sprachlos” – mit diesem Wort umschreibt das Urgestein der Grünen, Renate Künast, die Stimmung in ihrer Fraktion. Es fehlten Spielregeln, wie mit einer solchen Situation umzugehen sei. Unions-Fraktionschef Jens Spahn (CDU) zeigt sich dennoch entschlossen. Natürlich habe man dieses Szenario im Kopf gehabt. Die Fraktion stehe nach wie vor geschlossen hinter Merz, und gemeinsam mit der SPD werde man ihn erneut zur Abstimmung stellen: “Es wird einen zweiten Wahlgang geben.”
Gleich nebenan, inmitten der Traube von Journalisten, dreht ein AfD-Abgeordneter ein Video für seinen Social Media-Auftritt. Der Ton dabei wenig überraschend und umso schärfer: Merz sei als Kanzler bereits gescheitert, bevor er gewählt sei. Und das, so der Abgeordnete, trotz großer Zugeständnisse an die SPD. Es steht die Frage im Raum, die Linken-Co-Chef Jan van Aken im ARD-Interview äußert: Wie könnte Merz als Kanzler das Land hinter sich vereinen, wenn das nicht einmal mit den Regierungsfraktionen gelingt?
Ähnlich sehen das die Grünen. Zwar gehöre es zur Demokratie dazu, dass Wahlen nicht so ausgingen, wie man sie erwarte, sagen die Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann. Eine Regierung ohne Rückhalt in den eigenen Fraktionen werde es jedoch auch bei zukünftigen Abstimmungen schwer haben.
Ein SPD-Abgeordneter beteuert, in den Reihen seiner Fraktion habe sich ein mögliches Debakel nicht abgezeichnet. Noch am Montag gab es demnach eine Aussprache mit Merz, bei der auch kritische Fragen gestellt worden seien. Abweichler aus den eigenen Reihen schließt der Sozialdemokrat nahezu aus.
Draußen, um den dem Reichstag herum, ist es gespenstisch leer, die Polizei hat das Gelände großräumig abgesperrt. In langen Reihen stehen schwarze Dienstlimousinen hinter dem Gebäude – als hätte jemand plötzlich eine Stopp-Taste gedrückt. Am Rand der Bannmeile schwenken einige Demonstranten Deutschlandfahnen und Flaggen mit Friedenstauben. Musikfetzen wehen über den Rasen, die Songzeile “Wann wachen wir auf?” brennt sich ins Gedächtnis. Auf einem großen Banner steht: “Wir haben die Schnauze voll.”