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Historische Zeitkapsel der Cannstatter Stadtkirche geöffnet

Möge die Zeitkapsel “in friedlichen Zeiten” wiedergeöffnet werden – so heißt es in einem Gruß aus dem Jahr 1904. Bei dem “historischen Moment” kamen auch Dokumente von 1719 und 1874 zum Vorschein.

Es war wie eine Zeitreise in die Vergangenheit – mehrere Jahrhunderte zurück. Eine historische Zeitkapsel der evangelischen Stadtkirche in Stuttgart-Bad Cannstadt ist am Montag geöffnet worden. Die Zeitkapsel befand sich in einer goldenen Kugel auf der Turmspitze der evangelischen Kirche. “Wir erwarten Dokumente zurückgehend bis 1661”, kündigte Cannstatts evangelischer Dekan Eckart Schultz-Berg (64) vorab an.

“Zweifellos handelt es sich hierbei um einen besonderen historischen Moment”, sagte er. Denn in Stuttgart gebe es nur vier Großkirchen “in diesem Alter” – die Stiftskirche, die Hospitalkirche, die Leonhardskirche und die Cannstatter Stadtkirche. “Die Stadtkirche ist wohl die einzige, in der diese Dokumente nicht im Krieg zerstört wurden.”

Die Öffnung der Zeitkapsel geschehe immer dann, wenn der Kirchturm renoviert werde, in der Regel nur alle 70 bis 80 Jahre, zuletzt 1963 und 1904. Wisse man denn nicht von 1963, was sich in der Zeitkapsel befindet? Nein, sagt Schultz-Berg. Damals seien die historischen Dokumente nicht detailgenau dokumentiert worden – “es gab keinen Fotokopierer, keine Digitalkameras”.

Am Montag um 8 Uhr ging es dann zunächst per mobiler Hebebühne 50 Meter hoch zur Turmspitze. Mit an Bord neben einem Kameramann sowie dem Dekan mit Helm und Sicherungsgurten: Der Klempnermeister Peter Bielohlawek. Doch der erste Annäherungsversuch an die Turmspitze scheitert wegen mehrerer fehlender Meter. Dann rangiert der Arbeitsbühnen-Lkw aufwendig, und der zweite Versuch, beobachtet von einem Dutzend Medienleuten, gelingt: Bielohlawek bohrt die goldene Kugel an der früheren Naht an und schneidet sie per Metallschere auf.

Schließlich bringt er insgesamt sieben mit Spinnweben umsäumte Behältnisse nach unten: Sechs Kupferzylinder von 10 bis zu 40 Zentimeter Länge, und ein geheimnisvolles rechteckiges, kupfernes Behältnis. Dann werden im Chorraum der Stadtkirche Klapptische aufgebaut, bevor der Klempnermeister die historischen Metallbehälter – einen nach dem anderen – per Zange öffnet. “Das ist ja wie kurz vor der Bescherung”, scherzt der Stuttgarter Architekt Mathias Riebelmann, der für die seit zwei Jahren laufende Kirchensanierung zuständig ist.

Zunächst erscheint ein in Sütterlin geschriebenes Dokument, das vom früheren württembergischen Landesbischof Erich Eichele (1904-1985) unterzeichnet ist, sowie eine “Canstatter Zeitung” von 1963. “Das ist ja noch nicht so der Knaller”, sagt Dekan Schultz-Berg leicht enttäuscht. Doch dann öffnet er das viereckige Kupferbehältnis, das wie alle anderen äußerlich unbeschriftet ist. Das darin enthaltene Paket ist – mit einem Wachssiegel versehen – aus dem Jahr 1904.

Darunter wiederum eine “Canstatter Zeitung” sowie ein putziges Liliput-Fotoalbum mit Aufnahmen von Canstatt, wie der heutige Stuttgarter Stadtteil bis 1933 hieß. Gerührt sind die – um die historischen Zylinder versammelten – Medienleute dann, als ein Gruß aus besagtem Jahr 1904 vorgelesen wird. Darin heißt es, dass die Wiedereröffnung des Behältnisses “in friedlichen Zeiten” erfolgen möge. Dekan Schultz-Berg kommentiert dies mit den Worten: “Zehn Jahre später war Krieg!”

Ein anderer Zylinder enthält eine “Stuttgarter Zeitung” vom 15. Juli 1963, deren Schlagzeile – ganz anders als heute – Hoffnung macht: “Großer Optimismus vor den Gesprächen mit Moskau.”

Dann kommen Dokumente von 1874 zum Vorschein, über den Bau eines Blitzableiters für den Kirchturm, sowie eine Nachricht vom 29. Mai 1790, dass “nachts um kurz vor zwölf Uhr” ein Blitz in die Stube des Turmwächters eingeschlagen sei. Und im Juli 1719 ist in einem Dokument von einem Sturmwind die Rede, doch das handschriftliche Papier schließt beruhigend mit den Worten “Gloria in Excelsis Deo” (“Ehre sei Gott in der Höhe”)

Die historischen Dokumente sollten nur bis Montagabend um 21 Uhr für die Bevölkerung ausgestellt werden. Schon am Dienstagmorgen sollten sie in einen nagelneuen Metallzylinder gesteckt und wieder in 50 Metern Höhe in der Zeitkapsel sicher verwahrt werden. Darin wird sich unter anderem ein “Bericht über die derzeitige Lage” befinden.

Dekan Schultz-Berg schreibt darin nach eigenen Worten über den Säkularisierungstrend, die Corona-Pandemie, den Ukraine-Krieg, die AfD und die “Veränderung der politischen Landschaft in den USA”. Falls die Stadtkirche im Jahr 2100 wieder renoviert werden muss, wird das dann ein Gruß aus der Vergangenheit sein.