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Historiker: “Wilhelm Gustloff” wurde erst später zum Symbol

Der Untergang der “Wilhelm Gustloff” kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs gilt als eine der größten Tragödien in der Geschichte der Seefahrt. Trotzdem wussten zunächst nur vergleichsweise wenige Menschen davon.

Die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in der Ostsee versenkte “Wilhelm Gustloff” hat sich laut Historiker Nils Köhler erst nach und nach zu einem Symbol für die Flucht aus Ost- und Westpreußen entwickelt. “Während der Fluchtereignisse im Frühjahr 1945 war der Untergang wenig bekannt, es wurde überregional kaum darüber berichtet”, sagte Köhler am Mittwoch in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). “Für die meisten Ost- und Westpreußen begann die Flucht über die Ostsee erst, als die ‘Gustloff’ schon untergegangen war.”

Am 30. Januar 1945, vor 80 Jahren, geriet das mit Flüchtlingen und Wehrmachtsangehörigen besetzte Schiff unter den Beschuss eines sowjetischen U-Bootes. Tausende Menschen kamen ums Leben, als das ehemalige Kreuzfahrtschiff bei eisigen Temperaturen vor der Küste Pommerns sank.

Später bildete das Schiff Köhler zufolge einen wichtigen Bezugspunkt für familiäre Narrative, auch wenn manche Fluchtgeschichte, in der die “Gustloff” vorkomme, in der Realität erst Wochen nach ihrem Untergang erfolgt sei. “Die Erinnerung fokussiert auf dieses Schiff, das nur an diesem 30. Januar 1945 Flüchtlinge transportierte und versenkt wurde”, so der Historiker. “Hunderte andere Schiffe, die über Monate Flüchtlinge transportierten, werden hingegen nicht erinnert, auch andere Schiffsuntergänge mit hohen Opferzahlen nicht.” Die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik und der Kinofilm “Nacht fiel über Gotenhafen” aus dem Jahr 1960, der die Fahrt der “Gustloff” thematisierte, hätten dieses Bild verfestigt.

Köhler ist Bereichsleiter für Dokumentation und Forschung beim 2021 in Berlin eröffneten Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung.