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Hier die Armen, da die Reichen? Über problematische Stadtviertel

In manchen Stadtvierteln gibt es viele Probleme: Armut, Gewalt, Drogen. Leben wollen dort die wenigsten. Gilt das aber auch für die Menschen, die dort zu Hause sind?

Stadtviertel mit schlechtem Ruf, in denen man möglichst nicht leben will, gibt es viele in Deutschland – ob im Norden, Osten, Süden oder Westen. In Köln ist es etwa Meschenich, in Kiel der Stadtteil Gaarden. Es gibt Drogenprobleme, Gewalt und verwahrloste Häuser: das, was man unter einem sozialen Brennpunkt versteht. Hier wohnen oft Menschen, die sich nichts anderes leisten können.

Doch welche Auswirkungen hat das Wohnen in solchen Vierteln auf den eigenen Lebensweg? “In den USA und Skandinavien gibt es viele Studien dazu. Sie zeigen etwa, dass die Bildungschancen in Quartieren niedriger sind, wo viele arme Menschen leben und dass das spätere Einkommen stark mit dem Ort des Aufwachsens zusammenhängt”, sagt Soziologe Marcel Helbig, Professor am Leibniz Institut für Bildungsverläufe in Bamberg.

In Deutschland dagegen seien die genauen Auswirkungen bisher nicht in der Breite erforscht – aus Datenschutzgründen, bedauert Helbig. “Allerdings scheint ziemlich sicher zu sein, dass die Nachbarschaft einen gewissen Einfluss ausübt. Dass etwa das Gesundheitsverhalten von Kindern geringer ausgeprägt ist, wenn das Umfeld auch nicht darauf achtet”, sagt Helbig. “In einer Klasse, in der 18 Schüler rauchen, raucht das 19. Kind bald auch, weil es denkt, das sei normal. Anders ist das auf Schulen, in denen niemand raucht.”

Helbig nennt als Beispiele für Stadtviertel, die besonders stark armutsgeprägt sind und in ihrer sozialen Zusammensetzung immer einheitlicher werden, vor allem Städte im Ruhrgebiet – sowie die Plattenbausiedlungen sehr vieler ostdeutscher Städte.

Diese “Segregation” – also die zunehmende Isolierung einer bestimmten sozialen Gruppe – habe sich in vielen Städten zusätzlich durch die Zuwanderung von 2015 sowie die Flüchtlingswelle nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verstärkt. “Auslandszuwanderung findet in einer Reihe von Städten fast ausschließlich in sozial benachteiligte Stadtviertel statt”, sagt Helbig, der verschiedene Studien zum Thema geleitet hat. “Das war die einfachste politische Lösung.”

Grund dafür sei der hohe Leerstand. In den ostdeutschen Plattenbauten etwa hätten vor der Zuwanderung 2015 in einigen Siedlungen rund ein Fünftel der Wohnungen keine Mieter gehabt. Ähnlich sei es in den alten Industriestandorten im Ruhrgebiet, wo es in den früheren Arbeiterquartieren viele leere Wohnungen gab.

Die Zuwanderung habe das ostdeutsche Plattenbaugebiet völlig verändert; etwa im Schweriner Süden oder im südlichen Halle-Neustadt sind die Ausländeranteile heute hoch. “Das hat viele überfordert”, so Helbig. “Wenn man das ganz kritisch betrachten will, dann sind die Menschen, die in den schön sanierten Altbauten der Innenstädte wohnen, überproportional die Akademiker, die vielleicht grün wählen und der Zuwanderung eher positiv gegenüberstehen. Aus dem eigenen Stadtteil kennen sie die aber nicht.” Entsprechend seien sie auch nicht diejenigen, “die die Integrationsleistung zu tragen haben. Das sind die in den Randbezirken, zum Beispiel den Plattenbauvierteln, die der Zuwanderung vielleicht schon ohnehin kritisch gegenüberstehen.”

Vor allem in Süddeutschland gebe es mittlerweile eine zunehmend stärkere soziale Durchmischung der Viertel, sagt Soziologe Helbig. Die Mieten und der Wohnungsmangel seien dort mittlerweile so hoch, dass Menschen mit mittleren Einkommen sich auch Wohnungen in ärmeren Vierteln suchen müssen: Die reicheren Viertel seien nach wie vor exklusiv. Und sogar wenn Arme und Reiche Tür an Tür leben, fänden Besserverdienende trotzdem Wege, wie man den mit Armut zusammenhängenden Problemen aus dem Weg gehen kann – indem sie ihre Kinder etwa auf Schulen in anderen Bezirken oder auf Privatschulen anmeldeten.

Altenessen im Ruhrgebiet ist auch so ein Stadtteil, der seit Jahren gegen Probleme kämpft, etwa drohende Entfremdung und Kriminalität. “Wie kannst du nur in Altenessen leben!” Dieser Satz mag dem ein oder anderen Bürger aus Essen durchaus geläufig sein. Die Stadt ist in Nord und Süd zweigeteilt – jedenfalls in den Köpfen vieler Menschen.

Um dem schlechten Ruf von Altenessen – in der Nordhälfte der Stadt gelegen – entgegenzuwirken, befragte das rheingold Institut Bürger des Stadtteils nach ihrem Lebensgefühl, darunter Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, Junge und Alte. Auftraggeber war die Essen Marketing GmbH und die Studie wurde in Kooperation mit der Altenessen-Konferenz durchgeführt, zu der etwa die beiden christlichen Kirchen und der Essener Verbund der Immigrantenvereine gehören.

“Beim Wohnviertel geht es um die konkrete Lebenswelt der Menschen: Da kaufen sie ein, gehen morgens aus dem Haus und kehren sie abends hin zurück. Das eigene Viertel ist der Lebensmittelpunkt. Von daher besteht spürbar Leidensdruck und ein starker Wunsch, den vielfach verspürten Negativtrend umzukehren”, sagt Psychologe Sebastian Buggert, der die Studie durchgeführt hat.

Interessanterweise hätten die Menschen in Altenessen etwas, was sie zusammenschweißen könne: “Sie sind eine Art Schicksalsgemeinschaft, da hier jeder sein Päckchen zu tragen hat. Die Notwendigkeit und der Wunsch, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, verbindet die Menschen in diesem Stadtteil, darüber können sie einander respektieren”, sagt Buggert. Zudem bestehe in Altenessen ein freieres Lebensgefühl als im wohlhabenderen Süden, allerdings müsse man aufpassen, dass diese Freiheit nicht ins Negative kippe: “Gemeinsame Werte und Regeln müssen gepflegt werden, sonst kommt es zu Entfremdung, Silo-darität in den Peer Groups und einer gefährlichen Egal-Stimmung.”

Auch Hygienestandards seien für ein Stadtviertel wichtig, weil darüber die Pflege der gemeinsamen Kultur sichtbar werde, sagt Buggert. “Da muss Licht sein, es darf keine dunklen Ecken geben, und es muss sauber gehalten werden. Das prägt die Wahrnehmung. Sonst wirkt das Viertel ungepflegt, vernachlässigt und dann auch unsicher”, sagt er.

Wenn man mit den Leuten rede, werde oft klar, dass sie jenseits der Probleme auch die Vorteile durchaus sehen. “Schüler sagten zum Beispiel: ‘Multikulti ist für uns normal.’ Sie empfanden es als Bereicherung, viele unterschiedliche Hintergründe zu kennen.” Lehrer berichten, dass Schüler aus dem Essener Norden teils weniger Begleitung durch die Eltern erfahren, damit schon früh auf eigenen Füßen stehen müssen.

Die Erfahrung, dass die Kinder solcher Viertel wenig oder gar keinen Input durch die Eltern bekommen, hat auch Schulleiter Thorsten Seiß gemacht. Für den Bildungserfolg der Schüler sei das schwierig. “Wir müssten die Kinder möglichst viel und möglichst lange in der Schule haben, um Defizite ausgleichen zu können”, sagt der Pädagoge. Er unterrichtet an der Gemeinschaftsgrundschule Kurt-Schumacher-Straße in Gelsenkirchen, einer Brennpunktschule mit vielen Kindern aus Roma-Familien.

Er ist gern Leiter an dieser Schule und wendet sich gegen Vorurteile: “Manche denken vielleicht, dass sie hier schnell ein Messer im Rücken haben. Aber an unseren Schulen sind ganz normale Kinder mit ganz normalen Bedürfnissen und Befindlichkeiten. Man baut eine Beziehung zu ihnen auf, wie in anderen Schulen auch.” Die Potenziale seien komplett vorhanden – aber die entsprechende Förderung fehle.