Wir sind erschüttert. Undenkbares geschieht. Egal, wie kenntnisreich Fachleute die Entwicklung in der Ukraine beobachtet haben – damit hatte wohl niemand gerechnet. Erst der Einmarsch Russlands in einen souveränen Staat auf dem Boden Europas. Dann die Drohung Putins mit dem Atomkrieg: Erstmals seit der Kubakrise vor 60 Jahren erscheint ein Dritter Weltkrieg möglich. Der Westen, wir!, wir sind verstört. Politik und Bevölkerung hierzulande pendeln zwischen Angst und Zorn, Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine und Ohnmacht.
Was hätte man anders machen können? Hätte man überhaupt etwas so anders machen können, dass Wladimir Wladimirowitsch Putin bei den Spielregeln von Völkerrecht und internationaler Diplomatie geblieben wäre?
Ein Mann, bei dem sich Analysten mittlerweile nicht mehr sicher sind, ob er ein genialer, aber verzweifelter Pokerspieler ist oder nicht doch ein völlig durchgeknallter, unberechenbarer Irrer. Seit 22 Jahren hat der frühere KGB-Agent den russischen Staat immer stärker auf sich zugeschnitten, so sehr, dass er als „Staatspräsident“ mittlerweile praktisch uneingeschränkt wie ein Diktator über die Atommacht Russland herrscht.
22 Jahre, in denen Beobachterinnen und Beobachter, Politikerinnen und Politiker, aber auch Friedensaktivistinnen und -aktivisten in den Kirchen sich immer wieder mit der Frage quälten: Müsste man stärker auf Putin zugehen? Mit Russland noch mehr auf Schmusekurs verhandeln? Die eklatanten Menschenrechtsverletzungen dort schweren Herzens in Kauf nehmen; so, wie wir es auch bei anderen Regimen wie Saudi-Arabien oder China machen? Wäre Putin dann nahbarer und friedfertiger geworden? Oder hätte der Westen ganz im Gegenteil viel mehr Stärke und Härte zeigen müssen? Hätten die Europäische Union und gerade auch Deutschland viel mehr Geld und Energie in die eigene militärische Aufrüstung stecken müssen, weil ein Machtmensch wie Putin nur diese Sprache versteht?
Wir sind ratlos. Überfordert. Bisher feste Glaubenssätze geraten ins Wanken.
Natürlich. Die Analysen gehen weiter. Auch in dieser Zeitung. Aber – was jetzt in den nächsten Tagen und Wochen geschieht, das kann wohl niemand auch nur halbwegs sicher vorhersagen.
Es scheint, als wären wir an einem Scheideweg angekommen. Wir alle sind in dem Bewusstsein groß geworden: Nie wieder Krieg! Und doch sieht sich die Bundesregierung jetzt genötigt, militärisch massiv aufrüsten. In den Kirchen ringt man darum, ob und wie man sich dementsprechend vom Pazifismus verabschieden muss. Schwerter zu Pflugscharen – wie kann man diesen Glaubenssatz verstehen, wenn ein bis an die Zähne bewaffneter Feind die Grenze übertritt? Reicht es dann, zu lieben und auch die andere Wange hinzuhalten?
Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Aber: Was bedeutet das für unser Handeln? Jetzt. In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten.