Im Norden häufen sich rechtsextreme Vorfälle. Das Lied „L’ Amour Toujours“ von Gigi D’Agostino wurde am vergangenen Wochenende in Mecklenburg-Vorpommern nach mehreren Public Viewings zur Fußball-Europameisterschaft erneut für rechtsradikale Parolen missbraucht. Für bundesweites Aufsehen sorgte ein offenbar rassistisch motivierter Angriff von Jugendlichen auf zwei Mädchen aus Ghana in Grevesmühlen. Auf der Holstenköste in Neumünster gab es „Sieg heil“-Rufe. Der Hamburger Psychologe Michael Thiel sieht in gesellschaftlichen Spannungen einen Grund für die Ausschreitungen. „Die Bevölkerung hat das Gefühl, unsere Bundesregierung hat den Kontakt zum Volk verloren. Das sorgt für Angst und Unsicherheit“, sagte Thiel dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Die Ampelkoalition werde von vielen als schwach wahrgenommen. Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft würden nicht greifen, stattdessen fühlten Menschen sich etwa vom Heizungsgesetz gegängelt. „Angst und Machtlosigkeit sind der Nährboden für rechtsextreme Parteien“, erklärte der Psychologe. Und wer sich in seiner Freiheit beschnitten fühle, sei schneller bereit, Grenzen zu überschreiten, um seinen Widerwillen zu demonstrieren.
Viele Menschen seien in unsicheren Zeiten für einfache Versprechen empfänglich. Die Schuld am eigenen Schicksal werde fälschlicherweise auf eine Gruppe in der Gesellschaft, in diesem Fall die Flüchtlinge, projiziert. „Die TikTok-Werbung der AfD zur Europawahl war plakativ, einfach und dumm. Aber sie hat der Partei viele junge Wählerstimmen gebracht“, erklärte Thiel, der den Rechtsruck in der Gesellschaft auch in seiner aktuellen Podcastfolge „Psychologen beim Frühstück“ beleuchtet.
Auffällig sei, dass es oft Gruppen seien, die rechtsradikale Parolen schwängen oder sogar aggressiv würden. „Grenzüberschreitendes Verhalten wird meist vom Anführer gefordert und gilt als Mutprobe. Solche Taten wie in Grevesmühlen schweißen die Gruppen dann noch enger zusammen und ziehen weitere Grenzüberschreitungen nach sich.“
Die Fußball-Europameisterschaft heize bei vielen zusätzlich den Nationalstolz an. „Beim Fußballgucken fließt oft viel Alkohol, der enthemmend wirkt. Gleichzeitig steigt die Gewaltbereitschaft“, sagte Thiel.
Besonders Heranwachsende hätten ein geringes Selbstwertgefühl, das sie über Klicks in sozialen Netzwerken wie Instagram und TikTok aufpolierten. Deshalb filmten sie oft ihre Taten und stellten sie ins Netz. „Sie wollen lieber eine zweifelhafte, kleine Berühmtheit sein, als ein unbekanntes Nichts.“
Thiel appellierte an die Medien, über rechtsextreme Vorfälle fundiert zu berichten, um das Bewusstsein der Gesellschaft für diese gefährliche Tendenz zu schärfen und deutlich zu machen, dass verfassungsfeindliches Verhalten strafbar sei. „Reine Sensationsberichte stacheln allerdings nur Nachahmer an.“