Für den ehemaligen Kirchenmusikdirektor aus Hamburg, Matthias Hoffmann-Borggrefe, hat die erste übergreifende Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche für Betroffene wenig verändert. „Mir sind finanzielle Wiedergutmachungsleistungen nicht angemessen. Sie nehmen nicht die Zerstörung der Seelen der Betroffenen in den Fokus“, sagte Hoffmann-Borggrefe. Der 61-Jährige hatte in seiner Kirchenmusikausbildung selbst sexuelle Gewalt erlebt.
Die sogenannte Forum-Studie war am 25. Januar 2024 veröffentlicht worden. Demnach waren zwischen 1946 und 2020 bundesweit mindestens 2225 Menschen von sexueller Gewalt in Kirche und Diakonie betroffen. Damals war von der „Spitze des Eisbergs“ die Rede. Doch neben den Zahlen hatte die Studie vor allem die Versäumnisse bei der Aufarbeitung im Fokus. Es hieß, dass spezielle kirchliche Strukturen die Täter decken und die Aufarbeitung erschweren würden. Nötig sei ein Kulturwandel in der Kirche.
“Safeguarding-Sundays” für Missbrauchsbetroffene
Unterdessen gibt es Schulungen für Mitarbeitende und Ehrenamtliche in der Kirche, sind Schutzkonzepte verbessert und Fach- und Beratungsstellen personell verstärkt worden. Doch noch immer ringen viele der Betroffenen um Anerkennung ihres Leids und um einen angemessenen Umgang.
Eine Initiative dazu scheint derzeit in Hamburg zu entstehen. Hoffmann-Borggrefe ist bereits mit der Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs im Gespräch über Orte des spirituellen Trostes oder einen Gottesdienst für Betroffene. „Der Gottesdienst könnte der Seelsorge dienen, das ist ja etwas, was Kirche eigentlich sehr gut können müsste“, erklärte Hoffmann-Borggrefe. Konkrete Vorhaben sind nach Angaben der Bischofskanzlei bislang aber noch nicht geplant.
Vorbild für diese Initiative könnte ein „Sonntag für Betroffene“ nach dem Vorbild der „Church of England“ sein, den der Hannoveraner Bischof Ralf Meister ins Gespräch gebracht hat. Anhand von Texten, Liedern und Gebeten setzen sich Gemeinden im Vereinigten Königreich mit der Situation von Schutzbedürftigen auseinander. „Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass Schutzbedürftige im Mittelpunkt der christlichen Botschaft stehen“, sagte Meister.
Landesbischof Meister: “Gottesdienste schaffen Vertrauen”
Eine gottesdienstliche Form, sich mit dem kirchlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt zu beschäftigen, sei auch hierzulande ein Thema, sagte Landesbischof Meister, etwa Bußgottesdienste. Allerdings habe bisher die Skepsis überwogen. „Vor allem, weil betroffene Personen uns sagten, es wäre zu diesem Zeitpunkt ein falsches Zeichen.“ Die Erfahrungen mit dem „Safeguarding-Sunday“, an dem mehr als 4000 Gemeinden in Großbritannien teilnehmen, seien hingegen vielversprechend, betonte Meister. „Bei der Einführung gab es viele kritische Stimmen. Doch es scheint, dass diese Gottesdienste zunehmend Vertrauen schaffen.“
Hoffmann-Borggrefe, der bis heute unter den Folgen seiner Vergewaltigung zu leiden hat, begrüßte den Vorschlag. „Wenn die Kirche mal damit anfangen würde, einen Sonntag lang die Situation der Betroffenen zu thematisieren, wäre schon viel erreicht.“
Gottesdienstprojekte für Betroffene in einzelnen Landeskirchen
Mittlerweile gebe es einzelne lokale Projekte in verschiedenen Landeskirchen, die das Thema sexualisierte Gewalt gottesdienstlich aufgreifen, bestätigte ein Sprecher der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ein bundesweiter Sonntag sei allerdings kein Thema. Der Maßnahmenplan der Forum-Studie schließe jedoch auch die Erarbeitung von Materialien ein, die für Gottesdienstprojekte verwendet werden können. „Und das Beteiligungsforum diskutiert ebenso anhaltend die Fragestellung, wie das Thema in Gottesdiensten zur Sprache gebracht werden kann.”
Doch andere Betroffene wie Katharina Kracht sehen die Initiative kritisch. „Wenn so etwas stattfindet, braucht es ein sehr gutes Konzept, das sicherstellt, dass Betroffene sinnvoll in alle Schritte einbezogen sind und dass alle Gemeinden durch Fachkräfte begleitet werden, die professionell im Thema sexualisierte Gewalt sind“, gab Kracht zu bedenken. Denn es müsse mehr als nur ein Gottesdienst gestaltet werden.