Sterbehilfevereine begleiten mehr Bundesbürger in den Tod. Experten beklagen fehlende Kontrolle und ein großes Dunkelfeld. Ein rechtlicher Rahmen fehlt immer noch.
Von einem “historischen Urteil” und einem “Paradigmenwechsel” war die Rede. Je nach eigenem Standort sprachen Politiker, Ärzte und Kommentatoren von einem “Urteil der Schande” oder von einem “Sieg der Menschlichkeit”. Vor fünf Jahren, am 26. Februar 2020, hat das Bundesverfassungsgericht die Sterbehilfe in Deutschland auf neue Füße gestellt.
Die Karlsruher Richter machten nicht nur das Verbot von Sterbehilfevereinen rückgängig. Sie verkündeten zugleich, jeder Mensch habe das verfassungsmäßig geschützte Recht, sich selbst zu töten. Einzige Voraussetzung: Der Sterbewillige entscheidet sich aus freiem Willen dazu – egal ob jung oder alt, gesund oder krank oder einfach nur lebenssatt.
Fünf Jahre später herrscht Verunsicherung. Rechtliche Folgerungen aus dem Urteil sind auf halber Strecke steckengeblieben. Karlsruhe hatte den Gesetzgeber ermutigt, einen Rahmen für Suizidbeihilfe zu schaffen, um Freiwilligkeit zu garantieren und Missbrauch zu verhindern. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle betonte damals, der Staat könne etwa Aufklärungs- und Wartepflichten für Suizidwillige festlegen, die Zuverlässigkeit von Sterbehilfevereinen prüfen und besonders gefahrenträchtige Formen der Suizidbeihilfe verbieten. Entsprechende Gesetzentwürfe scheiterten 2023 im Bundestag.
Unterdessen steigt die Zahl der Selbsttötungen, die mit Hilfe von Sterbehilfeorganisationen durchgeführt werden. Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben teilte Mitte Januar mit, dass 2024 bundesweit insgesamt 1.200 Menschen mit Hilfe von Suizidbegleitern gestorben seien. Präsident Robert Roßbruch spricht allerdings von einer “gewissen Sättigung”.
Experten sehen den Bereich der Suizidbeihilfe derzeit als eine Black Box an: Die Bundesärztekammer spricht von einem “ungeregelten Zustand”, der auch für Ärztinnen und Ärzte problematisch sei. Es brauche dringend eine gesetzliche Neuregelung, sagte Ärztepräsident Klaus Reinhardt. Leitend müsse der Gedanke sein, der Selbstbestimmung des Einzelnen gerecht zu werden und zugleich eine gesellschaftliche Normalisierung des Suizids zu verhindern.
Experten beklagen, dass die Praxis der Suizidbeihilfe weithin im Dunkeln liegt. Für etwas mehr Wissen sorgte kürzlich eine auf die Stadt München begrenzte Studie, für die ein Forschungsteam aus Gesundheitsamt und Rechtsmedizin alle Sterbeakten seit 2020 ausgewertet hat.
Demnach waren es entgegen einer landläufigen Meinung in fast allen Fällen nicht Sterbenskranke, die ein todbringendes Medikament einnahmen. Entscheidender sei der Wunsch gewesen, selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen. “Wir haben gesehen, dass es alte Menschen sind, die Angst haben, ihre Würde zu verlieren, wenn sie pflegebedürftig werden”, sagte Amtsärztin Sabine Gleich.
Sie stellte fest, dass Gutachtenerstellung, Medikamenten-Verordnung auf Privatrezept, Suizidassistenz und ärztliche Leichenschau in einem erheblichen Teil der Fälle in der Hand eines einzigen Arztes lagen. Es fehle weithin an Kontrolle. Notwendig wäre ein Vier-Augen-Prinzip.
Mit den praktischen ethischen Fragen befasst sich auch ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes “Forschungsnetzwerk zur Suizidassistenz”. Insbesondere Ärzte sollen künftig auf Instrumente zur Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit von Patienten bei Wünschen nach assistiertem Suizid zurückgreifen können sowie auf Qualitätskriterien für die Dokumentation und Aufklärungs- und Beratungsgespräche. Die Ergebnisse sollen im Frühjahr vorgestellt werden. Wie Suizidbeihilfe verantwortbar durchgeführt werden kann, ist auch Thema bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Sie arbeitet an einer Leitlinie zum “Umgang mit Anfragen nach Assistenz bei der Selbsttötung”.