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Flucht vor dem Winter ist kaum möglich

Eisige Temperaturen sind für die Bahnhofsmission Zoo in Berlin-Charlottenburg eine Herausforderung.

Von Alexandra Wolff

Zuerst fällt an dem achtjährigen Jungen nichts auf. Außer, dass man sich fragt, warum der kleine Bub zur Bahnhofsmission Zoo gehen muss. Erst als er sich setzt, kommt die Schuhsohle zum Vorschein. An dem einen Schuh fehlt sie komplett. Und das an einem Tag, an dem es in Sibirien wärmer sein soll als in Berlin. Der lange Winter macht allen wohnungslosen Gästen der Bahnhofsmission zu schaffen. Dass es Ende Januar bis zu elf Grad warm wurde, wirkte sich auf die Kleidungsbestände der Bahnhofsmission eher kontraproduktiv aus: „Jemand mit Wohnung hat seine warme Kleidung im Schrank verstaut und wieder herausgeholt, als die Temperaturen zurück in den Keller fielen“, sagt Dieter Puhl, der Leiter der Evangelischen Bahnhofsmission. „Aber Obdachlose haben keinen Kleiderschrank. Die werfen also ihre abgetragene Winterkleidung weg und holen sich neue bei uns. Als es schließlich kälter wurde, brauchten sie doch wieder warme Kleidung.“

Winterdepressionen und gereizte Stimmung

Aber auch ganz andere Probleme machen seinen Gästen und damit auch ihm zu schaffen. Gegen Winterdepressionen können Obdachlose nicht einfach ein paar Tage in den Urlaub fahren oder wenigstens in die Sauna gehen. Und das sorgt in den Notübernachtungen, die wenigstens eine warme Schlafgelegenheit bieten, für eine gereizte Stimmung. Zumal es in diesem Jahr 70 Plätze für Notübernachtungen weniger gibt als noch im Vorjahr. „Würde der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff eine Reportage über uns schreiben, gäbe es zwei Möglichkeiten“, hat sich Puhl überlegt: „Wenn wir den als Obdachlosen verkleideten Wallraff in unserer überfüllten Notübernachtung schlafen lassen würden, schriebe er hinterher über die unmenschlichen Zustände dort. Oder wir könnten ihn nicht rein lassen, weil die Notübernachtung schon überfüllt ist, dann schriebe er, dass wir ihn erfrieren lassen wollten.“

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