Der Satz, die Weimarer Republik sei eine „Republik ohne Republikaner“ gewesen, ist aus Sicht des Historikers Johannes Tuchel falsch. Die positiven Ansätze in der ersten deutschen Demokratie würden vielfach übersehen. Dazu zähle auch der Einsatz von Millionen Mitgliedern des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ für den Schutz des parlamentarischen Systems, sagte der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand dem Evangelischen Pressedienst (epd) aus Anlass des 100. Todestages von Erich Schulz am 25. April. Das „Reichsbanner“-Mitglied wurde 1925 im Straßenwahlkampf von einem Rechtsextremisten erschossen. Die Botschaft des „Reichsbanners“ gelte bis heute, sagte Tuchel: „Wenn wir viele sind, haben wir bessere Möglichkeiten, die Demokratie zu verteidigen.“
epd: Herr Tuchel, wie erklären Sie sich, dass eine Millionenorganisation wie das 1924 gegründete „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ weitgehend in Vergessenheit geriet?
Johannes Tuchel: Die Weimarer Republik wird auch heute noch von ihrem Scheitern her beurteilt. Dafür steht die Aussage, es sei eine Republik ohne Republikaner gewesen. Doch das ist falsch. Denn dabei werden die positiven Ansätze der ersten deutschen Demokratie vielfach übersehen oder gar missachtet. Das hat auch dazu geführt, dass die Millionenorganisation der Republikverteidiger, das „Reichsbanner“, lange Jahrzehnte ebenfalls nur als Teil des Scheiterns der Parteiendemokratie gesehen wurde.
epd: Was bedeutet das für die heutige Zeit und den Umgang mit erstarkenden Kräften am rechten Rand?
Tuchel: In Deutschland wurde die Demokratie lange Zeit als etwas vollkommen Selbstverständliches wahrgenommen, etwas, um das sich nicht gekümmert werden musste. Erst nach dem Auftreten radikaler Kräfte im letzten Jahrzehnt und vor allem nach dem Jahr 2015 ist vielen Menschen bewusst geworden, dass Demokratie gelebt, geschützt und vor allem bewahrt werden muss – von jedem Einzelnen. Die Erinnerung an die Menschen, die im „Reichsbanner“ Republik und Verfassung verteidigt haben, kann uns dabei helfen, eigene Formen der politischen Partizipation und des eigenen Engagements für die Demokratie zu entwickeln. Die Botschaft des Reichsbanners ist klar und gilt bis heute: Wenn wir viele sind, haben wir bessere Möglichkeiten, die Demokratie zu verteidigen.
epd: Bei vielen Kundgebungen der Rechten werden auch Deutschlandfahnen geschwenkt…
Tuchel: Ich denke, dass wir auch die Symbole der Demokratie viel zu leichtfertig behandelt haben. Denken Sie einmal daran, wie sehr unsere Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold, die spätestens seit 1848 für demokratisches Denken stehen, von rechtsextremen Kräften vereinnahmt worden sind. Das hat unser durchaus verkrampftes Verhältnis zu den Nationalfarben weiter belastet – und ich habe auch wenig Gegenwehr dazu bemerkt.
epd: Nicht wenige sind in Sorge um den Bestand unserer Demokratie. Wie blicken Sie auf den wachsenden Rechtspopulismus?
Tuchel: Wir haben jetzt in Deutschland mit der AfD eine Partei, die in Teilen als gesichert rechtsextrem anzusehen ist, die aber im Bundestag und den Länderparlamenten mit starken Fraktionen sitzt. Die Zahl derjenigen, die nicht bereit sind, diese Partei zu wählen, ist aber auch groß und stellt die Mehrheit der Bevölkerung. Unsere demokratischen Institutionen funktionieren. Wenn ich ein Patentrezept hätte, wie dem erstarkenden Rechtsextremismus erfolgreich begegnet werden könnte, würde ich sofort in die Politikberatung gehen. Was wir aus der Geschichte des „Reichsbanners“ und der demokratischen Kräfte der Weimarer Republik jedoch lernen können, ist die Bedeutung, die ein gemeinsames politisches Handeln gegenüber allen Formen von politischem Extremismus hat. Das ist die Verantwortung, die die demokratischen Parteien jetzt haben.