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Experte: Islamisten in Syrien anders als Taliban in Afghanistan

Wie geht es weiter in Syrien? Wohin entwickeln sich die islamistischen Machthaber? Ein Experte ist verhalten optimistisch. “Schizophren” findet er dagegen Teile der Syrien-Debatten.

Syrer schwenken Fahnen und versammeln sich auf einem öffentlichen Platz in Damaskus
Syrer schwenken Fahnen und versammeln sich auf einem öffentlichen Platz in DamaskusImago / Middle East Images

Nahostexperte Carsten Wieland teilt nicht die Befürchtung, Syrien könne sich zu einem zweiten Afghanistan entwickeln. “Die Radikalität, mit der die Taliban in Afghanistan auftreten, ist nicht zu vergleichen mit der Art, wie Idlib zuletzt regiert worden ist”, sagte er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Blick auf die syrische Region, in der die islamistische HTS schon länger das Sagen hat: “Idlib hat keine liberale Regierung und ist schon gar keine Demokratie. Aber es gab eine Regierung, die gesellschaftlichen Widerstand nicht einfach übergangen, sondern auf ihn geantwortet hat.”

Im vergangenen Jahr zum Beispiel habe die Regierung in Idlib ein Sittengesetz erlassen wollen, das Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum vorsah, fügte der ehemalige Berater im UN-Friedensprozess zu Syrien hinzu: “Dagegen gab es Widerstand. Das Gesetz trat nicht in Kraft. Wenn wir nüchtern hinschauen, sehen wir in Idlib viele Frauen, die arbeiten, am öffentlichen Leben teilnehmen, in Cafes sitzen. Das ist überhaupt kein Vergleich zu den Taliban.”

Syrien: al-Golani will Machtstrukturen schaffen

Mit Blick auf HTS-Führungsfigur Abu Muhammad al-Golani ergänzte der Experte, dieser habe sich trotz seiner radikalen Vergangenheit bisher “nach außen wie nach innen überlegt und klug verhalten”. Er sei auch überzeugt, “dass es al-Golani weniger um die Verbreitung einer reinen islamischen Lehre geht als darum, Machtstrukturen zu schaffen. Und da ist Syrien ein besonderes Spielbrett – mit vielen religiösen Minderheiten und einem starken kurdischen Element.”

In Ägypten, so Wieland weiter, hätten es die Muslimbrüder, die ja sogar gewählt worden waren, nicht geschafft, die Menschen hinter sich zu bringen: “Diese Chance gibt es aber jetzt in Syrien, im Grunde erstmals in der Region – dass sich die Machthaber von einem islamistischen, radikalen Hintergrund in etwas Pragmatisches wandeln. Bisher haben wir den Wandel immer in der umgekehrten Richtung erlebt.”

Syrien: Starker Zusammenhalt hat Tradition

Immerhin, so der Experte, gebe es eine “jahrhundertealte Geschichte des Zusammenlebens von Religionen”, wenn auch mit Höhen und Tiefen: “Es gibt in Syrien eine starke Tradition des Zusammenhalts.” Die aktuelle Debatte in Deutschland nannte Wieland “schizophren” in Sachen Syrien: “Einerseits treten wir eine Abschiebedebatte los, andererseits fürchten wir, dass uns die Syrer mit unserem Gesundheitssystem alleinlassen. Das hat viele Syrer verunsichert.”