Zum 90. Geburtstag des Dalai Lama steht Tibet vor einer ungewissen Zukunft. Sein Tod wird eine große Lücke reißen. Die Exiltibeter und Peking werden jeweils nach einer Wiedergeburt suchen – und am Ende wird es zwei geben.
Der exiltibetische Regierungschef Penpa Tsering warnt vor Unruhen und einer Radikalisierung nach dem Tod des Dalai Lama. “Für die Tibeter wird es sehr emotional sein”, sagte er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin. “Direkt nach dem Ableben Seiner Heiligkeit wird es vor allem Instabilität als Reaktion geben.” Die Tibeter hätten “zu viel Traurigkeit” erfahren. Ihr ganzes Leben hätten sie gehofft, den Dalai Lama einmal in Tibet sehen zu können; dazu sei es nicht gekommen.
Von Gewalt hätten die Tibeter immer abgesehen, weil der Dalai Lama für ein friedliches Vorgehen eintrete. “Wer wird nun, wenn es keine Führung wie Seine Heiligkeit mehr geben wird, die Tibeter in Tibet führen?”, fragte Tsering. “Das ist gefährlich – denn dann könnten sich die Dinge radikalisieren.” Dazu könne auch die Reaktion der chinesischen Seite auf eventuelle Aufstände beitragen. “Sie wollen die Tibeter radikalisieren”, warnte der Ministerpräsident. “Denn dann könnten sie die Tibeter als Terroristen bezeichnen. Diese Gefahren sind immer da.”
Dass der 14. Dalai Lama bei seinen Auftritten immer schwächer wirkt, nannte der Regierungschef “normal, wenn man altert und die 90 erreicht”. Am 6. Juli wird der 90. Geburtstag von Tenzin Gyatso, wie der 1959 nach einem niedergeschlagenen Aufstand ins indische Exil geflüchtete Religionsführer heißt, mit Feierlichkeiten im indischen Dharamsala begangen. “Für sein Alter, mit 90 Jahren, geht es ihm meiner Meinung nach fantastisch, also müssen wir uns um ihn keine Sorgen machen.” Am Mittwoch (2. Juli) werde der Dalai Lama aber in einem Video weitere Details über seine Nachfolge bekanntgeben.
Zuletzt hatte der 14. Dalai Lama betont, nicht in China, sondern “in der freien Welt” wiedergeboren zu werden. Ein lebender Buddha wie er wird nach dem tibetischen Glauben nach seinem Tod wiedergeboren. Das Konzept der Reinkarnation geht davon aus, dass es ein Kontinuum des Bewusstseins gibt. Um dieses Kind zu lokalisieren, werden Anweisungen zu Lebzeiten des Verstorbenen verfolgt, Träume und Visionen gedeutet, Naturphänomene beobachtet und ein Orakel befragt. Die Idee der Wiedergeburt sei, das Wirken des Dalai Lama fortzusetzen – was in Tibet nicht möglich sei, weil es dort keine Freiheit gebe, so der Regierungschef.
Er trat Spekulationen entgegen, dass der Dalai Lama auch einen Nachfolger ernennen könnte (Emanation), ohne dass ein Kind gesucht werden müsse. Dies sei nicht üblich – und dürfte auch auf Unverständnis unter Gläubigen stoßen, schilderte Tsering. Während das Büro des Dalai Lama mit Führern des tibetischen Buddhismus die Suche nach der Reinkarnation einleiten werde, dürfte das auch die kommunistische Führung in Peking tun – in Eigenregie. “Darauf bereiten sie sich seit 20 bis 25 Jahren vor”, sagte er. So werde es “zwei Dalai Lamas geben”.
Ähnlich ist es auch mit dem Panchen Lama passiert, dem zweithöchsten tibetischen Religionsführer. Nach dessen Tod 1989 initiierte der Dalai Lama über dessen Heimatkloster Tashi Lhunpo die Suche nach der Wiedergeburt. Im Mai 1995 erkannte er den damals sechsjährigen Gedhun Choekyi Nyima aus Nagchu an.
Überrumpelt ließ Peking den Jungen und dessen Familie verschwinden, startete eine eigene Suche und präsentierte den sechsjährigen Gyaltsen Norbu. Dieser 11. Panchen Lama “von Pekings Gnaden”, der heute 35 Jahre alt ist, “wird von den Tibetern nicht respektiert”, so Tsering. Auch würden die Tibeter keinesfalls einen chinesischen 15. Dalai Lama anerkennen.
Auf jeden Fall wird es im zwei Jahrzehnte dauernden Übergang ein Vakuum geben, bis der gefundene Junge erwachsen ist und die Rolle als neuer Dalai Lama ausüben kann. “Diesen Rückschlag wird es geben”, so der Regierungschef. Es werde sehr schwierig, den jetzigen 14. Dalai Lama zu ersetzen. Der Nachfolger dürfte anders sein. “Er wird vielleicht nicht dieselbe Persönlichkeit haben und auch nicht dieselbe Reichweite und Denkweise und all das.”
Der exiltibetische Regierungschef wirft Staats- und Parteichef Xi Jinping vor, mit seiner Kampagne der Sinisierung, der chinesischen Überprägung, die tibetische Kultur auslöschen zu wollen. “Die Idee ist: Wenn es keine Nationalitäten gibt, gibt es auch keine Nationalitätenprobleme. Man muss also alles assimilieren”, sagte Tsering. “Inzwischen tun sie es nicht hinter den Kulissen, sondern offen.” Sie fürchteten nicht, was die Welt sage. Eine Million oder 80 Prozent der tibetischen Kinder seien den Familien entzogen und würden in Internaten auf Chinesisch unterrichtet, beklagt er.
Wenn China davon ausgehe, dass Tibet zur Volksrepublik gehöre, dann seien auch die tibetische Zivilisation, Kultur und Sprache ein Teil davon. “Wenn sie verantwortlich wären, sollten sie sich darum kümmern, statt es auszulöschen.” Obwohl Tibet historisch unabhängig gewesen sei, suchten die Tibeter nicht mehr die Trennung von China, sondern vielmehr echte Autonomie. Sie verfolgten einen “Mittelweg”, erläuterte Tsering – was das chinesische Hauptanliegen der Souveränität berücksichtige.