Die Evangelische Kirche in Deutschland setzt sich traditionell für Frieden und Gewaltvermeidung ein. Wie bewerten Sie die aktuelle Diskussion um die Wiedereinführung des Wehrdienstes aus christlicher Perspektive?
Jan Kingreen: Wir allen sehnen uns nach Frieden. Und gleichzeitig ringen wir – auch in der evangelischen Kirche – seit dem russischen Angriff auf die Ukraine um den konkreten Weg zu einem gerechten, nachhaltigen Frieden. Zu diesem Weg kann auch ein Ende der Aussetzung der Wehrpflicht zählen, die so tief in Grundfreiheiten wie das elementare Recht auf Leben eingreift, wie kaum eine andere Pflicht. Sie ist den Bürgerinnen und Bürgern ethisch nur zumutbar, wenn sie für die Landesverteidigung erforderlich ist, wenn es also darum geht, den Frieden zu wahren. Unsere Aufgabe als Kirche dabei ist es, den Menschen eine Stimme zu geben, die aus Gewissensgründen keinen Dienst an der Waffe leisten wollen oder können. Die individuelle Gewissensfreiheit gehört seit der Reformation zur DNA unserer Kirche.
Dann sollte in der Debatte doch stärker über die Förderung von zivilen Friedensdiensten als Alternative zur Wehrpflicht nachgedacht werden, oder? Welche Modelle könnte die Kirche hier vorschlagen?
Die evangelische Kirche ist seit langem mit guter Expertise in vielen Ländern dieser Welt mit Freiwilligendiensten und Friedensdiensten unterwegs. Sie fördert und unterstützt zudem andere Vereine bei dieser Arbeit. Diese Dienste müssen, wo nötig, weiter gestärkt und ausgebaut werden. Sollte es zu einem Ende der Aussetzung der Wehrpflicht kommen, stünden sie als wichtige alternative Angebote oder Ersatzdienste bereit.
Braucht Deutschland eine Wehrpflicht?
— Evangelische Zeitung (@Evangelische) March 13, 2025
Angesichts globaler Krisen und sicherheitspolitischer Herausforderungen argumentieren Befürworter der Wehrpflicht immer wieder mit der Notwendigkeit einer robusten Verteidigung. Kann es aus Sicht der Kirche überhaupt eine ethische Rechtfertigung für eine allgemeine Dienstpflicht geben?
Eine Entscheidung über eine allgemeine Dienstpflicht setzt doch eine breite gesellschaftliche Debatte über deren Vor- und Nachteile voraus. Diese Debatte ist – unabhängig eines möglichen Endes der Aussetzung der Wehrpflicht – ohnehin ja auch noch verfassungsrechtlich zu führen. Und vor allem kann sie nicht ohne die Perspektive derjenigen, die diesen Pflichtdienst in Zukunft leisten müssten, stattfinden. Hier sind generationsübergreifende Dialogräume unabdingbar! Als evangelische Kirche setzen wir uns weiterhin mit Nachdruck für eine „Kultur der Freiwilligkeit“ ein.

Denken Sie, dass die Kirche junge Menschen heute für Friedensarbeit sensibilisieren kann? Und wenn ja, welche Rolle könnte sie in der Gestaltung eines möglichen neuen Dienstmodells spielen?
Sollte die Aussetzung der Wehrpflicht ein Ende finden, ist abzusehen, dass viele junge Menschen sich mit Fragen auseinandersetzen müssen: Ist es für mich mit meinem Gewissen, meinen ethischen Vorstellungen und politischen Überzeugungen vereinbar, Wehrdienst zu leisten? Bin ich bereit, mich als Soldatin oder Soldat ausbilden zu lassen und schlimmstenfalls die Konsequenzen bis hin zur Aufgabe des eigenen Lebens zu tragen?Diese und andere Fragen ohne heimliche Agenda offen in geschützten Räumen zu besprechen und so junge Menschen für ihre eigene Gewissensbildung zu sensibilisieren, ist Aufgabe der Kirche. Sie muss Räume bieten, in denen junge Menschen miteinander über ihre Entscheidung sprechen und streiten können. Das ist eine wichtige Aufgabe, für die allerdings die nötigen Strukturen auch erst wieder aufgebaut werden müssten – diese Herausforderung teilen wir uns mit der Bundeswehr.
Inwiefern sehen Sie die Gefahr, dass eine Rückkehr zur Wehrpflicht einer Militarisierung der Gesellschaft Vorschub leisten könnte?
Durch den Angriff Russlands auf die Ukraine und der Neuausrichtung der USA unter Präsident Trump sind die Themen „Krieg“ und „Frieden“ wie auch „Militär“ und „Verteidigung“ verstärkt in den Fokus der öffentlichen Debatten gerückt. Dass sich die breite Gesellschaft einer „Militärlogik“ unterwirft, kann ich jedoch nicht erkennen. Vielmehr haben Menschen Fragen, Sorgen, Ängste und Zweifel. Dafür einen Raum zu geben, Zuzuhören und ohne Abwertung gemeinsam Spannungen auszuhalten, ist die Rolle der Kirche in dieser Zeit.