Manche Angehörige schrieben in der NS-Zeit Briefe an die Justiz, um ihre Partner oder Kinder vor der Zwangs-Sterilisation zu retten. So setzte sich etwa ein Vater für seine 16-Jährige Tochter ein. Sie war nach einer unehelichen Schwangerschaft schwermütig geworden und hatte einen Selbstmordversuch unternommen. „In den Briefen heißt es, er könne sich nicht vorstellen, was der Staat seiner Tochter antut“, sagt Diana Kail im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Heidelberg. Die Historikerin des Generallandesarchivs Karlsruhe hat für ihr im Dezember erscheinendes Buch „Zwangssterilisation in Heidelberg“ zahlreiche Akten des Erbgesundheitsgerichts Heidelberg von 1934 bis 1945 ausgewertet.
„Bedrückend ist, dass gerade Heidelberg in dem System dieser Medizinverbrechen eine Schlüsselstellung einnahm“, sagt Professor Frank Engehausen. Der Historiker der Heidelberger Universität ist bekannt durch die Koordination von Forschungsprojekten zur NS-Vergangenheit von baden-württembergischen Ministerien.
So seien zwischen 1934 und 1945 insgesamt mehr als 300.000 Frauen und Männer zwangssterilisiert worden. Im Durchschnitt habe dieses Schicksal im Deutschen Reich 0,4 Prozent der Bevölkerung getroffen, in Heidelberg hingegen liege der Schnitt bei 0,6 Prozent. „Und in Eppelheim ist sogar annähernd ein Prozent der Bevölkerung unfruchtbar gemacht worden“, so Engehausen.
1933 führten die Nationalsozialisten das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ein. In der Theorie sollten sich laut Kail „erbkranke“ Menschen freiwillig zum Wohle des Volkes operieren lassen. Auch sollten Bürgermeister und Ärzte auffällige Personen melden. Auf Basis eines medizinischen Gutachtens entschieden dann Erbgesundheitsgerichte über die Sterilisation, wobei die Betroffenen Beschwerdemöglichkeiten hatten.
„Die Realität sah aber anders aus“, so Kail. In den Akten sei herauszulesen, dass die „Freiwilligen“ von Ärzten unter Druck gesetzt wurden. Und die Beschwerdemöglichkeiten hatten die Nationalsozialisten ausgehöhlt. „Persönliche Anhörungen fanden etwa zeitweise gar nicht statt“, erläutert Kail. Wer sich nach dem Beschluss des Gerichts nicht freiwillig ins Krankenhaus begab, wurde mit Polizeigewalt hingebracht.
„Wir beobachten in und um Heidelberg herum einen besonderen Eifer“, erklärt Engehausen. Vermutlich aus Existenzängsten suchten Behörden nach einem Bereich, in dem sie sich profilieren konnten, und fanden ihn in der Umsetzung dieses Gesetzes. „Schon früh wurden Leistungsbilanzen nach Berlin geschickt“, so Engehausen. Ärzte, Bürgermeister, Polizei und Justizbehörden arbeiteten reibungslos miteinander.
Engehausen zeigt dies in seinem 2023 erschienenen Buch zur Geschichte Eppelheims im 20. Jahrhundert exemplarisch auf. Zu einem Schreiben vom Februar 1934 heißt es. „Der Eppelheimer Hausarzt teilt dem Bürgermeister die Namen von zehn Personen mit, die seiner Auffassung nach unter das Gesetz fielen.“ In einer anderen Handschrift, vermutlich der des damaligen Bürgermeisters, sind vier weitere Namen hinzugefügt worden.
Im Gesetz waren verschiedene Krankheitsbilder angegeben, die Menschen zu „Erbkranken“ machten. Dazu gehörten Epilepsie, Schizophrenie oder erbliche Blindheit. „Die meisten Menschen wurden aber wegen der angeblichen Diagnose angeborener Schwachsinn unfruchtbar gemacht“, sagt Kail. Mit diesem Instrument konnten die Nationalsozialisten in normale Biografien eingreifen. „Es traf Studierende mit Prüfungsängsten, Hilfsarbeiter oder Eltern kinderreicher Familien, die der Fürsorge zur Last fielen“, so Engehausen.
Zur Rechenschaft gezogen für die Medizinverbrechen wurde in den Nachkriegsjahrzehnten niemand. Es hieß, dass Zwangs-Sterilisationen kein „spezifisch nationalsozialistisches Unrecht sind, sondern ein gesundheitspolitisches Normalinstrument“, wie es das auch in anderen Ländern gegeben habe. „Aber kein anderes Land hat so gezielt nach “Erbkranken„ gesucht“, so Engehausen. (2722/04.12.2024)