Artikel teilen

Einzigartige Gedichtsammlung aus dem Ersten Weltkrieg nun online

Die Universität Freiburg hat eine große Sammlung von Kriegsgedichten veröffentlicht – ein Zeugnis für Militarismus und den Missbrauch von Religion. Die 14.000 Texte sind aber auch Mahnung zum Frieden heute.

Die Forderung nach Kriegstüchtigkeit von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist als Wort des Jahres 2024 nominiert. Die Bundeswehr aktualisiert ihren Operationsplan Deutschland, um auf neue Kriegsgefahren vorzubereiten. Der russische Angriff auf die Ukraine hat den Krieg zurück nach Europa gebracht.

Eine jetzt neu digitalisierte Sammlung von Kriegsliedern und -gedichten im Freiburger “Zentrum für Populäre Kultur und Musik” ist drastisch abschreckende Mahnung dafür, was geschieht, wenn eine Gesellschaft in totale Kriegsbegeisterung taumelt. “Die Sammlung umfasst 14.000 Gedichte aus dem Ersten Weltkrieg. Pazifistische oder kriegskritische Stimmen finden sich hier kaum. Das hat mit der strengen Pressezensur zu tun, aber auch mit der gesellschaftlichen Stimmung vor gut 100 Jahren”, erklärt Michael Fischer, der das Zentrum leitet.

Die Kriegsgedichte entstanden zwischen 1914 und 1918 und wurden von Tausenden verschiedenen Autorinnen und Autoren verfasst. Der Gründer des Deutschen Volksliedarchivs, John Meier, hatte mit Kriegsbeginn 1914 ein Berliner Büro beauftragt, Gedichte und Soldatenlieder zu sammeln, aus den deutschen Tageszeitungen auszuschneiden und nach Freiburg zu schicken. Bis 1918 kamen so mehr als 14.000 Gedichte zusammen, die seitdem in 35 Archivkartons lagern.

“Viele Menschen erlebten den Kriegsbeginn damals als große Zeit, als historischen Moment für Deutschland. Kulturwissenschaftler wollten dies dokumentieren und gaben verschiedene Sammlungen in Auftrag: Kinderspielzeug, Bücher, Gedichte oder sogar Kriegsmunition. Meier, der kurz zuvor in Freiburg das Deutsche Volksliedarchiv gegründet hatte, war überzeugt, dass der große Krieg auch besondere Gedichte und Lieder schaffen würde”, führt Fischer aus. Der Krieg wurde heroisiert und als Katalysator und Beschleuniger für Kultur und Modernität gesehen.

Neben den Zeitungsausschnitten startete das Deutsche Volksliedarchiv vor knapp 110 Jahren auch einen direkten Aufruf an deutsche Soldaten, die von ihnen an der Front gesungenen Kriegslieder ins Archiv zu schicken. Auf diese Weise kamen rund 800 Briefe mit etwa 3.000 Liedtexten in die Sammlung. Wissenschaftlich erforscht sind die Gedichte und Lieder bisher kaum. Ein neues Forschungsprojekt will jetzt untersuchen, wie die Texte Führergestalten inszenieren.

Zugleich zeigen die Gedichte, wie religiös imprägniert die deutsche Kriegsbegeisterung war. Unter den Verfassern sind zahllose Pfarrer. Kriegsgebete flehen Gott um Unterstützung auf dem Schlachtfeld an und rufen den Allmächtigen zur Vernichtung der Feinde auf. In einem Text zur Melodie des bekannten Kirchenlieds “Alles meinem Gott zu Ehren” heißt es noch 1918: “Gott, beschirme unsere Heere! / Halte ihnen treue Wacht / leih uns deines Armes Wehre / gegen Feindes Übermacht!”

Und ein “Kriegsgebet” von 1915 erbittet: “Gott des Himmels und der Erden / Lass des Krieges Sieger werden / wem das Recht zur Seite steht / segne dem die Todeswaffen, den Du selbst erkürt zu strafen.”

Wenn die Gedichte vom “Reich” sprechen, bleibt unscharf, ob es um das Reich Gottes oder um das Deutsche Reich geht. “Wir sehen vielfach, dass Staat und Religion in eins gesetzt werden. Vielleicht so ähnlich, wie es heute in Russland mit der Allianz des Kirchenführers Kyrill mit Putins Regime geschieht”, sagt Fischer.

In brutaler Bildsprache erbittet das “Gebet aus dem Schützengraben” im Jahr 1916 das direkte Eingreifen Gottes, um die Feinde abzuschlachten – im Bild des Sensenmannes, der seine blutige Ernte einfährt: “Gib sie uns in die Hände / die Scheuern sind offen, die Scheuern sind leer / Sensen, die wir schwingen / schon geschliffen singen / auf den Tag der Ernte harrt das Heer. / Gott, das ist nicht Sünde / treib in die Feuerschlünde / sie uns wie Hasen zu!”

Umgekehrt zeigen die zu Weihnachten von der Front geschickten Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg fast nie klassisch religiöse Motive. Vielmehr wurde schon damals Weihnachten vor allem als Idyll und Familienfest idealisiert. Eine populäre Karte zeigt den tapfer Wache stehenden deutschen Soldaten im Schnee, der versonnen an seine zu Hause verbliebene Familie unterm Weihnachtsbaum denkt. Eine religiöse Bildpostkarte der Freiburger Sammlung fällt aus dem Rahmen, weil sie einen die Hände vors Gesicht schlagenden Christus zeigt, der inmitten von im Kampf getöteten Soldaten steht.

Doch viel häufiger diente das bis heute ersehnte Bild von der weißen Weihnacht dazu, die Schrecken des Krieges zu überdecken – mit der Farbe der Reinheit und Unschuld. Ab und an ist auf den Postkarten unter dem Schnee eine militärische Stellung oder ein Wagenrad zu erahnen. “Aber die echten Schrecken, die Brutalität des Stellungskriegs und die Technisierung des Mordens mit Giftgas und neuen Waffen werden völlig ausgeblendet”, beschreibt Fischer.

Historiker schätzen, dass im Ersten Weltkrieg zwei Millionen deutsche Soldaten starben und insgesamt mehr als neun Millionen Soldaten gewaltsam zu Tode kamen. Geschätzte sieben Millionen Zivilisten starben an den Folgen des Kriegs.

Das individuelle Leid ist im Gedicht “Die Kriegsbraut” von 1915 zu erahnen: “Abends im Kämmerlein und früh im Morgenschein froher Gesang! – Morgen kommt Liebster mein, schrieb mir aus Polen. Und es soll Hochzeit sein, Hochzeit nach frohem Sieg, Hochzeit im Krieg! – Abends im Kämmerlein und früh im Morgenschein Schluchzen so bang! Liebster kommt nimmermehr, sandten aus Polen mir nur sein Kreuzlein daher. Von Eisen kalt und schwer, nimmer kommt er.”