Immer wieder war der Muslim im Vorruhestand im Sommer im Eiscafé gegenüber der Reutlinger Nikolaikirche gesessen und hatte zugesehen, wer in diese Citykirche hineinging oder herauskam. Lange hatte er mit sich gerungen, dann hatte auch er selbst den Schritt über die Türschwelle gewagt. „Nun wird er Teil des ehrenamtlichen Teams“, sagte die katholische Pastoralreferentin Malin-Sophie Hagel. Sie ist mit 50 Prozent für die Citykirchenarbeit angestellt, wie auch ihr evangelischer Kollege Stefan Schwarzer. Gemeinsam haben die beiden Kirchen eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) gegründet, in der die Finanzen und Verantwortlichkeiten genau austariert sind.
Schwarzer kam im September 2023 zur Reutlinger Citykirche, seine Kollegin genau ein Jahr zuvor. Doch das Projekt „Citykirche Reutlingen“ begann schon im Juni 2005, im Jahr 2007 wurde die 1358 erbaute Kirche für die neue Nutzung umgebaut. Jetzt steht erneut eine kleinere Umgestaltung an. Zum Beginn des neuen Jahres wird aber zuerst ausgeräumt, denn die Vesperkirche ist wieder zu Gast in der Nikolaikirche.
Das Gründungsjahr liegt mitten in einer Bewegung: Im Jahr 2004 wurde das Netzwerk Citykirchenprojekte gegründet, es ist seitdem stark gewachsen. Derzeit gehören ihm in Deutschland und darüber hinaus 134 Einrichtungen an, davon 75 römisch-katholische, 40 evangelische, 18 ökumenische und eine aus der Altkatholischen Kirche. In Baden-Württemberg gibt es Citykirchenprojekte mindestens in Böblingen, Esslingen am Neckar, Freiburg, Friedrichshafen, Heidelberg, Heilbronn, Karlsruhe, Konstanz, Ludwigsburg, Mannheim, Pforzheim, Ravensburg, Reutlingen, Stuttgart und Ulm. Die Projekte haben jeweils ihre ganz eigene Prägung.
In Reutlingen gibt es dienstags bis freitags jeden Mittag für 7,90 Euro ein leckeres, vor Ort von einem angestellten Koch zubereitetes Essen, von 10 bis 18 Uhr gibt es Getränke und Kuchen. Der Koch ist einer von vier Hauptamtlichen, zusätzlich zu den beiden Geistlichen, hinzu kommen für den Cafébetrieb bis zu 50 Ehrenamtliche. An jedem zweiten Samstag wird ein Frühstück angeboten.
Außerdem gibt es in der Citykirche einen Infostand, der mit sehr erfahrenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzt ist – meist im Ruhestand oder kurz davor. Ihr vielseitiges Wissen ist nötig, denn die Anfragen sind kunterbunt: Touristen kommen herein oder Menschen mit einem seelsorgerlichen Anliegen. Manchmal kommt auch einer, der ein warmes Plätzchen für ein Mittagsschläfchen sucht, auch er ist willkommen. Die Sitzecke mit mehreren schönen Sofas und Sesseln nimmt es an Gemütlichkeit mit jedem Wohnzimmer auf. Wenn nötig, wird ein Ratsuchender weitervermittelt – an die Diakonie, die Caritas oder die Arbeiterwohlfahrt und andere, die Drähte sind kurz.
Immer wieder sind Ausstellungen zu sehen – etwa Bilder aus privaten Sammlungen oder ab 10. Dezember thematische Werke zum Thema Menschenrechte. Ein Alleinerziehendentreff und ein Trauercafé nutzen die Nikolaikirche, es gibt eine offene Singstunde, ein Kirchenkino und übers Jahr verteilt verschiedene Gottesdienste. Auch die Erwachsenenbildung – die katholische genauso wie die evangelische – lädt immer wieder in die Nikolaikirche ein. Die beiden Geistlichen beobachten, dass so mancher für eines der vielen Angebote erstmals die Citykirche betritt und sich später auch zu anderen Anlässen wieder hereinwagt.
Rechtzeitig vor Weihnachten steht ein großer Wunschbaum in der Nikolaikirche. Die Stadt Reutlingen hat rund 1.700 Briefe an sozial bedürftige Familien mit Kindern bis zu 14 Jahren versendet. Sie durften für ihre Kinder einen Wunsch für etwa 30 Euro melden. So kamen in diesem Jahr rund 1.400 Wünsche zusammen. Besucher kommen herein, wählen einen Wunsch aus, gehen einkaufen und erfüllen einem ihnen unbekannten Kind, von dem sie nur Geschlecht und Alter wissen, diesen Herzenswunsch. Viele Wünsche bezogen sich auf Kleidung, was zeigt, wie sehr der fehlende Schuh oft drückt. Sollten bei der Aktion „Sternenfunkeln in Kinderaugen“ am Ende Sterne mit Wünschen übrig bleiben, springt die Aktion Sterntaler von Citykirche, Diakonie und Caritas ein. „Kein Kind wird leer ausgehen“, verspricht Hagel.