Sie musste sterben, weil ihrer Familie der westliche Lebensstil nicht gefiel. Vor 20 Jahren wurde Hatun Sürücü von ihrem Bruder erschossen. Ein sogenannter Ehrenmord – was hat die Gesellschaft daraus gelernt?
Ein Gedenkstein im Stadtteil Tempelhof erinnert an sie: Hatun Sürücü (1982-2005). Die älteste Tochter kurdischer Eltern, die Anfang der 1970er Jahre aus der Osttürkei nach Berlin gekommen waren. Mit einem Cousin in der Türkei war die junge Frau mit 16 Jahren zwangsverheiratet worden. Im Streit zurück nach Berlin gekehrt, fand sie mit ihrem Baby Zuflucht in einem Heim für minderjährige Mädchen. Sie legte das Kopftuch ab, holte einen Schulabschluss nach und machte eine Lehre als Elektroinstallateurin.
Vor 20 Jahren, am 7. Februar 2005, wurde sie von einem ihrer Brüder erschossen. Ein sogenannter Ehrenmord, der die Medien und die Menschen in der Bundesrepublik aufwühlte und bundesweit eine Debatte auslöste – über Gewalt im Namen der Ehre in muslimischen Familien.
Tatsächlich ist so – Gewalt im Namen der Ehre – ein Referat beim Frauenrechtsverein Terre des Femmes benannt. Dessen Leiterin Myria Böhmecke betont, dass diese Form von Gewalt kein islamisches Phänomen sei. “Gewalt an Frauen und auch die sogenannten Ehrenmorde wurzeln in streng patriarchalen Strukturen, in denen Frauen von vornherein weniger Rechte haben, dem Mann untergeordnet sind und ihre Sexualität in jeglicher Hinsicht streng reglementiert wird.” Es sei wichtig, dies nicht an einer bestimmten Religion festzumachen.
Das Schicksal Hatun Sürücüs habe aber deutlich gemacht, dass “Ehrenmorde” auch in Deutschland geschehen. “Zwangsheirat wurde 2011 ein eigener Straftatbestand, 2017 wurde das ‘Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen’ verabschiedet und es gibt mittlerweile mehr Fachberatungsstellen”, so Böhmecke weiter. Dennoch gebe es noch viel zu tun. Nach Angaben von Terre des Femmes gab es bundesweit für die Jahre 2022 und 2023 insgesamt 26 solcher versuchten und erfolgten vorsätzlichen Tötungen.
Ähnlich wie Böhmecke beurteilt auch Sabine Meinen von der Frauenhilfsorganisation Solwodi, die Gewaltopfer berät und betreut, die Folgen des Mords an Sürücü auf die Sicherheit muslimischer Frauen in Deutschland. “Er führte zu einer stärkeren öffentlichen Sensibilisierung für Gewalt in migrantischen und konservativen Familien, verstärkte gesetzliche Maßnahmen zum Schutz von Frauen und förderte die Diskussion über die Rechte von Frauen in Migrantengemeinschaften.” Insgesamt stelle der Fall einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit Gewalt gegen Frauen dar, betont Meinen.
Dabei nahmen im vergangenen Jahr mehr als 280 Frauen und Mädchen Kontakt zu Solwodi auf, weil sie von einer drohenden oder bereits erfolgten Zwangsverheiratung betroffen waren. Bei über 100 Frauen habe sogar eine Bedrohung durch einen “Ehrenmord” im Raum gestanden. “Gerade bei den erzwungenen Eheschließungen sehen wir seit Jahren eine deutliche Steigerung”, so Meinen.
Alle, die mit potenziell Betroffenen und Bedrohten Kontakt haben, sollten über die spezifischen Warnzeichen und Gewaltformen sensibilisiert sein, findet Myria Böhmecke. Doch dazu gehöre auch, dass Schulen und Behördenmitarbeiter mit diesem Thema nicht allein gelassen würden. “Es bedarf konkreter Handlungsleitfäden und Fortbildungsangebote, einem adäquaten Opferschutz sowie einer verlässlichen Finanzierung von Beratungsstellen.”
Wie wichtig Beratungs- und Anlaufstellen seien, um eine Tragödie wie vor 20 Jahren zu verhindern, unterstreicht ebenfalls der Geschäftsführer des Muslimischen SeelsorgeTelefons (MuTeS), Mohammad Imran Sagir. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass Imane oder andere Autoritäten bei manchen Familien, dem kulturell “schwierigen Klientel”, nur bedingt Einflussmöglichkeiten hätten.
Das Muslimische SeelsorgeTelefon weise bei derartigen Gesprächen neben Anlaufstellen aber auch auf Bekannte oder Verwandte der Anruferinnen hin, die vielleicht familienintern vermitteln können. Auch das sei schon vorgekommen. Inwieweit der Ethik-Unterricht, der als eine Konsequenz nach dem Mord an Sürücü als ordentliches Unterrichtsfach an Berliner Schulen installiert wurde, Schaden abwehren könne, vermag Sagir nicht einzuschätzen.
Seit 2013 zeichnet die Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus Projekte und Initiativen aus, die Mädchen und Frauen helfen, ihren Weg zu gehen. Am 30. Januar lädt Terre des Femmes zu einer öffentlichen Online-Podiumsdiskussion ein, an der auch die TV-Moderatorin Sandra Maischberger teilnimmt, die 2019 den Film “Nur eine Frau” über das Schicksal von Hatun Sürücü produziert hat. An ihrem Gedenkstein in Berlin-Tempelhof werden auch nach 20 Jahren regelmäßig Blumen und Kränze abgelegt. Politiker halten Reden.