Artikel teilen

Dreimal untertauchen, dann wieder raus

Vor 225 Jahren wurde auf Norderney das erste deutsche Nordseeheilbad gegründet – das Baden galt als Jungbrunnen

Schwimmen konnte vor 225 Jahren fast niemand. Aber das war auch nicht wichtig, als auf Norderney das erste deutsche Nordseeheilbad gegründet wurde. Gestartet wurde mit drei Badekarren und vier Badewannen. Es ging um Gesundheit. Aber nicht nur.

Norderney. Ausgedehnte Dünenlandschaften und das Wasser mit dem Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer: Als zweitgrößte ostfriesische Insel gehört Norderney zu den beliebtesten touristischen Zielen an der Nordseeküste. Am 3. Oktober 1797, vor 225 Jahren, genehmigte der preußische König Friedrich Wilhelm II. auf der Insel das erste deutsche Nordseeheilbad. Damit begann – zunächst nur langsam und mit Unterbrechungen – eine Erfolgsgeschichte. Heute kommen jedes Jahr rund 590 000 Übernachtungs- und 260 000 Tagesgäste auf die Insel.

Die Liebe zum Meer wuchs erst allmählich. „Im 18. Jahrhundert schien den Menschen die Natur mit ihren hohen Bergen, den tiefen Wäldern und dem endlosen Meer bedrohlich“, erläutert Matthias Pausch, Stadtarchivar und Leiter des Bade-Museums auf Norderney. „Naturkatastrophen wurden als göttliche Strafen für fehlerhaftes menschliches Handeln verstanden.“ Das Meer stellte man sich gar als Reich der Höllenmächte und voller gruseliger Ungeheuer vor.

Das Meer lockte, es schreckte nicht mehr ab

Das änderte sich im Zuge der Aufklärung. Romantische Künstler wie Caspar David Friedrich verliehen dem Badetourismus im 19. Jahrhundert zusätzlichen Schwung. Das ruhige Meer war fortan ein Sehnsuchtsort, die Wellen ein Ausdruck von Lebenskraft und Tatendrang. Dazu entdeckte die britische Aristokratie die Heilkraft des Salzwassers – englische Seebäder wurden zum Vorbild in ganz Europa.

Ein deutscher Impulsgeber dieser Entwicklung war der lutherische Inselpastor von Juist, Gerhard Otto Christoph Janus. In einem Schreiben an den preußischen König regte er 1783 die Gründung eines Seebades auf Juist an. Denn, so seine Argumentation, die Luft dort vertreibe das „Unreine“ aus dem menschlichen Körper. Doch seine Petition blieb unbeantwortet.

So entstand das erste deutsche Seebad im September 1793 nicht an der Nordsee, sondern in Heiligendamm an der Ostsee. Vier Jahre später machte dann Norderney an der Nordsee den Anfang. Die Anfänge waren untrennbar mit dem Mediziner und Landphysikus Friedrich Wilhelm von Halem (1762-1835) verbunden, er verfasste eine Denkschrift zur Gründung des Norderneyer Seebades.

Doch anfangs fehlte es an Geld. Erst im Sommer 1800 konnte die erste richtige Badesaison eröffnet werden, „damals mit gut 250 Gästen“, bilanziert Pausch. Die wichtigsten Anschaffungen für die erste Saison waren ein kleines „Conversationshaus“ zum „Aufenthalt und zur Bedienung der Gäste“, drei selbstgebaute Badekarren und vier Badewannen. Ein Fährverkehr wurde eingerichtet, immerhin. Aber die Unterbringung der Gäste war schwierig. „Alles ziemlich überschaubar“, blickt Pausch zurück.

Auch die Anreise war beschwerlich. So dauerte eine Fahrt auf holprigen Wegen mit der Postkutsche von Hamburg bis Aurich 30 Stunden. Erst die „Bäderdampfer“, die von Bremen und Hamburg aus die Inseln ansteuerten, und der Ausbau der Eisenbahn vereinfachten die Sache. Trotzdem: Zunächst waren es vor allem Vermögende aus Bürgertum und Adel, die sich eine Seebäderkur leisten konnten.

Die französische Besatzung von 1806 beendete dann zunächst den Badebetrieb. Erst 1814 gab es einen Neustart. Mit Erfolg: Badekuren galten als Jungbrunnen und Heilmittel gegen vielerlei Krankheiten der Haut und der Schleimhäute, des Nervensystems, der Knochen und der Gefäße. Gebadet wurde nach Geschlechtern getrennt, mit jeweils separaten Zuwegen an den Strand. Heute erinnern noch Straßennamen wie Damenpfad und Herrenpfad an diese Zeit.

Badete man auf ärztlichen Rat zunächst noch nackt, wurde es später prüde: Badekarren dienten als Umkleidekabinen. Die Frauen trugen bei ihrem Gang ins Meer sackartige Flanellkleider, darunter Pluderhosen, die sich auf geradezu lebensgefährliche Weise mit Wasser vollsaugten. Doch schwimmen konnte ohnehin so gut wie niemand. „Die meisten blieben nicht einmal zwei Minuten im Wasser, manche nur Sekunden. Es galt die Regel der Engländer: Three dips and out – dreimal eintauchen und raus“, erläutert Pausch. Nach dem Bad wurde in gepflegter Runde debattiert, man gab sich dem Glücksspiel hin, ging jagen, flanierte oder saß am Strand.

Längst ging es nicht mehr nur um die Gesundheit. So zitiert der Stadtarchivar einen Bericht aus dem „Prager Tageblatt“ vom August 1879: „Zu den schwersten Kranken, die alljährlich in Norderney haufenweise erscheinen, gehören heirathslustige Mädchen und junge Witwen, denen die Meeresnymphe den süßen Bräutigam aus den salzigen Wellen präsentiren soll.“

Heute überwiegen die Sonnenanbeter, der Bädertourismus boomt. Wobei neben dem Naturraum Wattenmeer die Gesundheit wieder ein zentrales Thema ist. Meeresluft, Meerwasser, Meersalz, dazu Algen und Schlick, die für kosmetische und therapeutische Thalasso-Anwendungen eingesetzt werden: Sie sind heute neben Spaß und Kultur das Rückgrat des Bäder-Tourismus, auch im Winter. Mit Blick auf das gesunde Reizklima schlägt Pausch die Brücke zur ersten Heilbad-Saison auf Norderney: „Das ist wichtig geblieben – wie in den Anfängen.“