Suchtkranke Eltern: Jedes fünfte bis sechste Kind in Deutschland ist davon betroffen. Und damit auch von Gewalt, Vernachlässigung, Stigmatisierung – und dem erhöhten Risiko, selbst eine Abhängigkeit zu entwickeln.
“Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.” Der berühmte Anfang von Leo Tolstois Jahrhundertroman “Anna Karenina” lässt sich auch und insbesondere auf von (Alkohol-)Sucht betroffene Familien anwenden: Wie vielfältig das dabei entstehende Unglück sein kann, zeigen die Geschichten von Tanja, Nicolas und Mandy.
Während Letztere stets eine ambivalente Beziehung zu ihrem alkoholkranken und gewalttätigen Stiefvater pflegte, hat Tanja derzeit den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Nicolas wiederum hat es “krass aus der Bahn geworfen”, als seine alkoholabhängige Mutter starb. Dennoch sei dies zugleich “eine Chance” gewesen für den damals erst Zehnjährigen, bedeutete es doch “viel mehr Sicherheit im Leben”: weniger Ortswechsel, weniger “beten und bitten und hoffen, dass sie sich doch noch fängt”.
Bei allen Unterschieden in den Lebensgeschichten aus der 37-Grad-Doku “Vergiftete Kindheit – Wenn Alkohol Familien belastet”, die das ZDF am Dienstag, den 1. April, ab 22.15 Uhr ausstrahlt: So manches Muster zieht sich doch durch die beschriebenen Fälle.
Da wäre vor allem das Schweigen, das Bemühen um eine “normale” Fassade. Die “Burg”, die um die Familie gezogen wird, die “stillen Abkommen” nach innen und “das große Schauspiel” nach außen. Aber auch der Rollentausch zwischen Kind und Eltern: Tanja, die ihre Mutter “beschützen” wollte, die Schuld für deren Sucht bei sich suchte. Mandy, die den betrunkenen Stiefvater aus der Kneipe abholte, ihn morgens neben seinem Erbrochenen vorfand. Eine weitere Gemeinsamkeit findet sich bei den jeweiligen Großeltern, die in der Not einsprangen, die Enkelkinder zwischenzeitlich aufzogen.
Es sind bemerkenswert reflektierte und positiv eingestellte Menschen, die Filmemacherin Laetitia von Baeyer-Nickol porträtiert: Der 23-jährige Nicolas, der Soziale Arbeit studiert, von einer Musikerkarriere träumt und ehrenamtlich in der Suchtberatungsstelle arbeitet, die ihm einst selbst so half.
Die 38-jährige Tanja, Kinderkrankenschwester und Hertha-Fan, die mittlerweile gelernt hat, dass man einen erwachsenen Menschen nicht “retten” kann, dass der oder die das selber hinbekommen muss. Und die über sich sagt, dass sie “das Schweigen nicht verdient” habe – und deshalb mit ihrer Teilnahme an diesem Film sowie der Foto-Ausstellung “Gesicht zeigen” der Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien, NACOA, an die Öffentlichkeit geht.
Aber auch die 47-jährige Mandy, die als Jugendliche beim Stiefvater blieb, als die Mutter den prügelnden Mann verließ. Ihrem Schicksal kommt man hier am nächsten, nicht nur, weil sich ihre Mutter und Tochter ebenfalls äußern. Das liegt auch an Mandys offener Art: In ihr gebe es einen anhaltenden Konflikt zwischen der “Vaterrolle” und dem “Täter”, berichtet die Lehrerin und vierfache Mutter; immer wieder neu müsse sie ihrem Stiefvater vergeben. Und doch fährt sie jedes Jahr an einen niederländischen Strand, um seiner zu gedenken.
Klar, dass ein halbstündiger Film mit drei zentralen Protagonisten nicht sonderlich in die Tiefe gehen kann. Wenig überraschend auch, dass hier keine repräsentative Auswahl von Betroffenen gezeigt wird. Das liegt in der Natur der Sache: Wer sich vor eine Kamera traut und öffentlich von einer Kindheit mit alkoholkranken Eltern berichtet, hat offensichtlich schon einen Schritt heraus getan aus möglicher Co-Abhängigkeit, falschen Schuldgefühlen und Stigmatisierung.
Nichtsdestotrotz gibt diese “37 Grad”-Folge einen stimmigen Einblick ins Thema und schafft eine gute Balance zwischen konkreten Lebensgeschichten und dezent verteilten Infos. Strukturiert wird das Ganze durch den anrührenden Song “Du” der Berliner Sängerin Wilhelmine, der Alkoholsucht im engsten Familienkreis thematisiert.