Der Bürgermeister von Lemgo wollte es genau wissen: Wer singt in der Stadt diese aufrührerischen Luther-Lieder wie „Ein feste Burg ist unser Gott“? „Herr Bürgermeister, sie singen alle“, berichtete der Ratsdiener wahrheitsgemäß. Da resignierte das Stadtoberhaupt: „Alles verloren“. Die aus der Zeit zwischen 1525 und 1530 überlieferte Begebenheit zeigt: Nicht zuletzt die von Martin Luther geschriebenen Lieder machten die Reformation in Westfalen bekannt und populär.
Doch bis sich die „neue Lehre“ durchsetzte, dauerte es einige Zeit. Der Landeshistoriker Werner Freitag spricht für Westfalen von einer im Vergleich zu anderen Teilen Deutschlands „verspäteten Reformation“. Eine Ursache war die territoriale Zersplitterung: Neben den vier Fürstbistümern Minden, Münster, Osnabrück und Paderborn existierten in der Region eine Reihe größerer und kleinerer Grafschaften. Es gab nicht den einen starken Fürsten, der wie in Sachsen oder Hessen die Reformation flächendeckend durchsetzen konnte. „Luthers Schriften mussten außerdem erst ins Niederdeutsche übertragen werden, um hierzulande überhaupt verstanden zu werden“, erläutert Freitag.
Singen, Lesen, Hören, Beten: „Die Reformation war zunächst eine Frömmigkeitsbewegung“, betont der Kirchenhistoriker Christian Peters. Dabei habe im Mittelpunkt gestanden, wie Gottesdienst gefeiert und das Abendmahl gereicht werde. Ebenso sei es um die Frage gegangen, ob es im Verhältnis von Mensch zu Gott Priester als Mittler brauche oder eben nicht. Erst allmählich verbanden sich auch in Westfalen religiöse Anliegen mit grundsätzlicher Kritik an der gewerblichen Tätigkeit des Klerus und dessen Steuerprivilegien sowie der schlechten Qualität der Seelsorge.
Vor allem die Bürger in den Städten, durch Handelsreisende oder Flugschriften gut über die politischen und religiösen Entwicklungen informiert, begehrten auf. Als 1529 in Minden ein reformatorisch predigender Mönch ins Gefängnis geworfen wurde, befreiten Bürger ihn mit Gewalt und setzten ihn wieder auf die Kanzel.
Um die Reformation zu festigen, „importierten“ die Mindener den Prediger Nikolaus Krage, einen Schüler Luthers, aus dem niedersächsischen Stolzenau. Er hielt Weihnachten 1529 den ersten evangelischen Gottesdienst in deutscher Sprache und verfasste Februar 1530 die erste Kirchenordnung in Westfalen. Der altgläubige Klerus musste unter Druck auf seine Privilegien verzichten, sich dem Stadtrat unterordnen und zur neuen Lehre bekennen – oder Minden verlassen.
Nicht überall spielten die Stadträte mit
Bis 1533 folgten die Städte Herford, Lippstadt, Soest und Lemgo mit eigenen Kirchenordnungen. Die freie Reichsstadt Dortmund führte die Neuerungen in Trippelschritten ein und brauchte dafür bis 1570. In Osnabrück und Paderborn scheiterte die Reformation, weil die Räte nicht mitspielten.
In Münster erlitt die Reformation auf besonders fatale Weise Schiffbruch. Mit dem Prediger Bernhard Rothmann hätten Melanchthon und Luther „auf das falsche Pferd gesetzt“, sagt Kirchenhistoriker Peters. Rothmann verfolgte eigene Pläne und öffnete sich trotz ermahnender Briefe aus Wittenberg dem Einfluss religiöser Fanatiker. Die sogenannten „Wiedertäufer“ errichteten in der Stadt eine Schreckensherrschaft, die 1535 mit einer vernichtenden militärischen Niederlage endete.
Auf dem Land häufig Mischformen
Während die Grafen von Lippe, Tecklenburg und Bentheim ihren Untertanen die Reformation „von oben“ verordneten (bis 1544), gingen die Herzöge von Jülich-Kleve-Berg in ihren westfälischen Grafschaften Mark und Ravensberg einen anderen Weg. Die humanistisch geprägten Herrscher wollten die katholische Kirche durch bessere Seelsorge und deutsche Predigten erneuern. In den Gemeinden setzte sich nach und nach das lutherische und in der Mark durch Glaubensflüchtlinge aus den Niederlanden auch das reformierte Bekenntnis durch. Dieses fasste um 1600 mit dem Übertritt der Grafen von Bentheim-Tecklenburg sowie Lippe vom Luthertum zum Calvinismus weiter Fuß.
In kleineren Orten und auf dem Land kam es vielfach zu Mischformen der Bekenntnisse: Das Abendmahl wurde getreu der evangelischen Lehre in Brot und Wein gereicht, die Gemeinde sang neue Lieder, aber ansonsten wurde die katholische Messe beibehalten. In den Städten kam es meist zu einer friedlichen Koexistenz: Der Minderheit wurde ein eigener Gottesdienst zugestanden und eine Kirche überlassen.
In den Bischofsstädten Paderborn und Münster war damit allerdings mit Durchsetzung der katholischen Gegenreformation Anfang des 17. Jahrhunderts Schluss. Hier konnten sich evangelische Gemeinden erst 200 Jahre später mit der Eingliederung der ehemaligen Fürstbistümer in das Königreich Preußen wieder frei betätigen.