Herr Gorski, 1939 schaffte es Kate Smiths Einspielung von „God Bless America“, eine der inoffiziellen Nationalhymnen der Vereinigten Staaten, in die Top 10 der US-Hitparade. Was hat es traditionell mit dem besonderen Verhältnis Gottes zu den USA auf sich?
Die Amerikanerinnen und Amerikaner haben sich schon immer als Lieblingskinder Gottes verstanden. Das fing schon mit den Puritanern in Neuengland an, die sich als die wahrhaftigen Nachfolger*innen der Alt-Israeliten begriffen haben. Die heutigen Evangelikalen sind nicht mehr ganz so anmaßend, glauben aber, dass Amerikas Macht und Wohlstand mit ihrer Frömmigkeit und Gottesfürchtigkeit zusammenhängt.
An welche biblischen und theologischen Traditionen konnten die ersten christlichen Siedlerinnen und Siedler in Amerika anknüpfen?
An zwei inzwischen fast vergessene Strömungen protestantischer Theologie: die sogenannte Bündnistheologie und die typologische Hermeneutik. Die Puritaner*innen glaubten, ein heiliges Bündnis mit Gott abgeschlossen zu haben: Sie sollten die biblische „Stadt auf dem Hügel“ aufbauen; Gott würde sie im Gegenzug beschützen und ihnen gnädig sein. Daher also „God Bless America“. Die Puritaner*innen verstanden die Figuren und Bilder vor allen des Alten Testaments nicht als einmalige geschichtliche Ereignisse, sondern vielmehr als sich wiederholende Dramen, in denen auch sie selbst ihre Rollen spielten.
Welches Verhältnis konnte sich vor diesem Hintergrund seit der europäischen Besiedlung Amerikas zwischen den christlichen Denominationen und der Demokratie entwickeln?
Das Verhältnis war lange eher komplementär. Intern waren die Kirchengemeinden selbst demokratisch organisiert. Die Kirchen- und Predigerämter wurden zumeist lokal gewählt. So dienten sie als „Schulen der Demokratie“, wie der große französische Soziologe Alexis de Tocqueville sie bezeichnete.
Gilt das auch noch heute?
Nicht mehr. Immer mehr Kirchengemeinden sind unter ökonomischen Gesichtspunkten organisiert. Sie werden von oben geführt von unternehmenslustigen Pastor*innen und wohlhabenden Geschäftsleuten aus der Gemeinde. Der Kirchendienst wird zur Dienstleistung, der Kirchenbesuch zum Spektakel und das Kirchenvolk zum bloßen Publikum.
Hat das auch die politischen Mentalitäten amerikanischer Christ*innen verändert?
Ja, und zwar entscheidend. Die kleinen, eher demokratisch strukturierten Kirchengemeinden – in den Worten Tocquevilles noch „Schulen der Demokratie“ – weichen zunehmend großen, eher geschäftlich ausgerichteten Kirchen-Unternehmen, in denen sich der Pastor als Vorstandsvorsitzender versteht. Kein Wunder also, dass so viele Mitglieder sogenannter Megakirchen sich zu Hause fühlen bei Trump.
Bei allen Unterschieden waren die Präsidenten der USA immer auch als Christen erkennbar. Was verbindet und was unterscheidet zum Beispiel den Baptisten und Demokraten Jimmy Carter vom Methodisten und Republikaner George W. Bush?
Rückblickend trennt sie weniger, als man gemeinhin zu denken pflegt, zumindest, was die Sozialpolitik betrifft. George W. Bush wollte die Republikanische Partei im Sinne eines „barmherzigen Konservativismus“ umgestalten. Wie Jimmy Carter wollte er eine Politik im Sinne christlicher Nächstenliebe verfolgen. Wäre 9/11 nicht gewesen und Dick Cheney nicht im Amt, wäre es ihm vielleicht auch gelungen. Nur glaubte Bush – wie allzu viele konservative Christinnen und Christen in den USA –, dass man das Böse mit Gewalt aus der Welt jagen könne und die USA speziell dazu berufen seien.
Donald Trump – unter anderem mehrfach verheirateter Betreiber von Spielcasinos – scheint auf den ersten Blick für einen Erfolg im christlich-konservativen Milieu nicht prädestiniert zu sein. Was verschafft ihm dennoch gerade unter Evangelikalen einen so großen Zuspruch?
Nicht wenige glauben im Ernst, dass Trump ein „guter Christ“ sei. Manchen geht es darum, möglichst viele konservative Richter ins Amt zu setzen und dadurch eines Tages die Abtreibung völlig zu verbieten. Viele amerikanische Christ*innen halten sich für „die meist verfolgte Gruppe“ in den USA und sehen in Trump einen starken, von Gott gesandten „Beschützer.“
Worauf beruht dieses Empfinden?
Konkret wird auf bekannte Fälle hingewiesen, wie zum Beispiel die von strengen Evangelikalen in Colorado geführte Bäckerei, die vor Gericht kam, weil die Betreiber keinen Hochzeitskuchen für ein schwules Paar backen wollten. Generell berufen sich viele weiße Evangelikale auf ihre „religiöse Freiheit.“ Was sie mit deren angeblicher Beschneidung in Wirklichkeit meinen, ist der Verlust ihrer Privilegien als die tonangebende Mehrheit. Dabei versteht sich diese Gruppe als eine Mehrheit unter den Weißen, die sich insgesamt inzwischen einer nicht-weißen Mehrheit gegenübersehen. Also sind in diesem Fall Religion und Hautfarbe völlig miteinander verquickt.
Aus deutscher Perspektive wird gern über „die“ amerikanischen Evangelikalen und Trump gesprochen. Wie legitim ist es jedoch, die Evangelikalen über einen Kamm zu scheren?
Wenn man von „den“ Evangelikalen spricht, hat man meistens ältere, weiße Evangelikale im Sinne. So viele theologische Gemeinsamkeiten sie auch mit jüngeren und nicht-weißen Evangelikalen haben, vertreten letztere oft eher fortschrittliche politische Ansichten, beispielsweise was Einwanderung oder Klimaschutz betrifft.
Wie wiederum stellen sich die theologisch moderateren evangelischen „Mainline Churches“ der USA zur gegenwärtigen Regierungspolitik?
Die sind auch politisch moderater. Aber auch in ihren Reihen finden sich viele weiße christliche Nationalist*innen, die mit den Evangelikalen das Gefühl teilen, „ihr“ Land zu „verlieren.“
Lassen Sie uns zum Schluss auf die anstehende Präsidentschaftswahl blicken. Ich möchte Sie um zwei Szenarien bitten. Zunächst: Wie könnte ein Wahlsieg Trumps das Staat-Kirche-Verhältnis weiter verändern?
Ein Wahlsieg Trumps würde meiner Meinung nach nur wenige Folgen für das Staat-Kirche-Verhältnis haben, dafür ganz verheerende Folgen für die Demokratie. Es würde vielleicht leichte Verschiebungen der „Trennungsmauer“ geben, etwa was die Rechte christlicher Firmen oder Unternehmen betrifft. Aber vor allem wäre es mit freien und offenen Wahlen erst mal vorbei in den USA.
Inwiefern sollten spätere Wahlen unfreier sein? Und an welchem Punkt könnten sich amerikanische Christ*innen und Kirchen zu öffentlicher Kritik und Intervention berufen fühlen – im Sinne Bonhoeffers Formulierung „dem Rad in die Speichen zu fallen“?
Sollten Trump und die Republikanische Partei die Wahl gewinnen und im Amt bleiben, werden sie ihre bisherige Strategie fortsetzen: das heißt, Wahlrecht und Wahlbeteiligung so zu beschränken und die Wahlkreisen so einzuteilen, dass eine Bevölkerungsminderheit dennoch die politische Mehrheit stellen kann. Darüber hinaus werden sie sich nicht scheuen, offenkundigen Wahlbetrug zu begehen. Man schaue nur, wie sie gegenwärtig gegen die Briefwahl agitieren. Sollte Donald Trump 2020 gewinnen, heißt der Präsident 2024 wahrscheinlich immer noch Donald Trump – es fragt sich nur, ob senior oder junior.
Widerstand dürfte wohl in erster Linie aus den Reihen der Schwarzen Kirchen kommen, die seit der ersten Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre zu den Hauptträgern demokratischer Werte geworden sind.
Zuletzt: Wie könnte sich demgegenüber ein Wahlsieg der Demokraten auswirken?
Das ist zurzeit die letzte Hoffnung für die amerikanische Demokratie.