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Die Heimat im Herzen

Mit 14 war Albert Reich sich sicher, dass sein Leben zu Ende sei. Er saß in einem feuchten, dunklen Keller im tschechoslowakischen Tabor. Von draußen hörte er die Salven der Kalaschnikows. „Tschechische Soldaten erschossen deutsche Gefangene“, erzählt der heute 92-Jährige.

Die Rache der Sieger ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Immer wieder holten sie Mitgefangene aus dem Keller – „Jugendliche, Verwundete, Amputierte“. Unter ihnen waren ehemalige Mitglieder der Wehrmacht, aber auch Heranwachsende wie Albert Reich. Sein „Vergehen“ bestand darin, Pflaumen auf dem Hof eines Tschechen eingesammelt zu haben, um damit sich, seinen sechsjährigen Bruder Karl-Heinz und seine Mutter Hermine im Herbst 1946 vor dem Hungertod zu bewahren.

Albert Reich wuchs im Egerland auf. Er ist Sudetendeutscher. Und er ist einer von rund 15 Millionen vertriebenen Deutschen, die infolge des von Hitler-Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges ab Ende 1944 ihre Heimat verlassen mussten. Diese „Umsiedlung“ wurde im August 1945 auf Drängen Stalins auf der Konferenz von Potsdam von den Siegermächten USA, Großbritannien und der Sowjetunion bekräftigt.

In unzähligen Trecks drängten Flüchtlingsströme aus den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten Ost- und Westpreußen, Danzig, Pommern, Ost-Brandenburg, Schlesien, dem Sudetenland und den Sprachinseln in der Tschechoslowakei, Südosteuropa und Russland gen Westen. Rund zwei Millionen überlebten Flucht und Vertreibung nicht.

Albert Reich erinnert sich genau an den Tag, an dem es hieß, alle Deutschen müssten das Sudetenland verlassen. „Wir Buben konnten das gar nicht glauben“, erzählt er. „Wir haben seit Generationen dort gelebt.“ Doch den Siegern war es ernst, todernst. „Wir wurden in Viehwaggons gepfercht“, erinnert sich Reich. Viele hätten Angst gehabt, dass es nach Sibirien gehe. Einige seien deshalb vom Zug gesprungen. „Die tschechischen Soldaten erschossen sie einfach vom Zug aus“, erzählt er.

Gedeckt war dieses brutale Vorgehen durch die tschechoslowakische Regierung, genauer durch die sogenannten „Beneš-Dekrete“, benannt nach dem ehemaligen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš. Nach seiner Rückkehr im Mai 1945 aus dem britischen Exil hatte er in Prag vor einer begeisterten Menschenmenge erklärt: „Es wird notwendig sein, kompromisslos die Deutschen in den tschechischen Ländern völlig zu liquidieren. Unsere Losung muss es sein, unser Land kulturell, wirtschaftlich und politisch endgültig zu entgermanisieren.“

Albert Reich, sein Bruder und seine Mutter wurden Ende 1946 „umgesiedelt“ – drei von insgesamt rund drei Millionen Sudetendeutschen. Über die Sowjetzone gelangten sie schließlich nach Stuttgart, wo seine Tante lebte. „Den Anblick, als wir aus dem Bahnhof traten, werde ich nicht vergessen“, erzählt er. „Die Stadt war eine einzige Trümmerlandschaft.“ Das Thema Flucht und Vertreibung machte der junge Mann schließlich zu seiner Lebensaufgabe.

Mit 17 Jahren war er dabei, als im Sommer 1950 in Stuttgart beim ersten Tag der Heimat vor den Ruinen des Neuen Schlosses die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ verkündet wurde. Sein Vater gründete die Sudetendeutsche Landsmannschaft Stuttgart-Süd. Er selbst engagierte sich in der Sudetendeutschen Jugend und im Bund der Vertriebenen. Später baute er das „Haus der Heimat“ mit auf, das er jahrelang leitete.

Die Anfänge seien nicht einfach gewesen: „Als Vertriebene wurden wir oft argwöhnisch beäugt“, erinnert sich Reich. Der renommierte Konstanzer Migrationsforscher Daniel Thym spricht von einer „veritablen Integrationskrise“, die Deutschland damals erlebt habe. „Mehr als zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene kamen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und angrenzenden Ländern in das heutige Bundesgebiet. Sie alle brauchten eine Wohnung und suchten Arbeit, was sich anfangs wegen der Kriegszerstörungen als schwierig erwies“, schreibt er in seinem Buch „Migration steuern“ (C.H. Beck). Die Betroffenen hätten noch Jahrzehnte später unter den Traumata von Flucht und Vertreibung gelitten. Umso wichtiger sei für sie die Brauchtumspflege gewesen.