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Der barmherzige Samariter lebt

Suppe austeilen, Kranke betreuen, Flüchtlingen helfen – warum tun Menschen das? Dieser Frage geht der Historiker Tillmann Bendikowski nach und stößt dabei auf die Bibel

Die Rettung von Flüchtlingen von der Crew der „Lifeline“ im Mittelmeer
Die Rettung von Flüchtlingen von der Crew der „Lifeline“ im Mittelmeerepd

Die einen nennen es ein humanitäres Sommermärchen, die anderen – vor allem im Rückblick – naives Gutmenschentum. Am 4. September 2015 lässt Bundeskanzlerin Angela Merkel die Grenzen für Flüchtlinge öffnen. Deutschland erlebt zu seiner eigenen Überraschung eine Welle der Hilfsbereitschaft. Warum engagieren sich Menschen für andere? Der Journalist und Historiker Tillmann Bendikowski ist dem Phänomen Helfen nachgegangen – und dabei auch an die Grenzen des Helfens gestoßen.
Warum hilft ein Mensch?, fragt Tillmann Bendikowski in seinem Buch. Am Anfang steht das Mit-Leiden, das Mitgefühl. Man sieht die Not eines anderen. Man nimmt sein Leid wahr und kann es nachfühlen wie eigenes Leiden. Auch im Mitleid gibt es ein selbstbezogenes Moment, nämlich den Schauer: Das könnte ich sein. Oder einer meiner Liebsten.
Nun kann man Schauer und Mitleid empfinden – und trotzdem nichts tun. Das belegen die Sensationsgierigen, die bei Unfällen gaffen und lieber Handyfotos machen statt helfen. Je mehr Zuschauer es bei einem Notfall gibt, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dem Opfer tatsächlich hilft. Psychologen und Soziologen sprechen von der „Diffusion der Verantwortung“. Es sind ja genügend andere da – also muss ich nichts tun.
Zum Mitleid müssen also noch andere Motivationen kommen, warum ein Mensch hilft. Eine ist der christliche Glaube. „Die Geschichte des Helfens ist eng mit der Geschichte des Christentums verknüpft“, schreibt Bendikowski. Natürlich haben die Christen das Helfen nicht erfunden. Aber Armut, Not und Krankheit nahmen die Menschen in der griechisch-römischen Antike als selbstverschuldet oder als Schicksal hin. Das sahen die Nachfolger Jesu radikal anders. Ihr Heiland Christus hat Leiden auf sich genommen, um es zu überwinden. Er hat seine Jüngerinnen und Jünger beauftragt, das Ihre zu tun, um Not zu lindern und die Welt dem Reich Gottes ähnlicher zu machen.
Die Rede vom Weltgericht im Matthäus-Evangelium hält fest, worauf es ankommt. Da sagt der endzeitliche Christus zu den Gerechten: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben.“ (Matthäus 25,35) Christus beschreibt die später so genannten „Werke der Barmherzigkeit“, die ein Christenmensch tun soll: Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke und Gefangene besuchen.
Der Sohn Gottes selbst erscheint hier als Bedürftiger. Das ist für Gläubige die höchste Motivation zu helfen: in jedem Notleidenden Christus sehen. Freilich ist diese Motivation nicht völlig altruistisch. Denn wer nicht so handelt, dem droht laut dem Matthäus-Evangelium die ewige Strafe. Wer der Verdammnis entgehen will, hilft lieber zu Lebzeiten. Also praktizierten Christen Nächstenliebe, sammelten in jedem Gottesdienst Geld für Bedürftige, errichteten Waisen- und Krankenhäuser. Ihr tatkräftiger Einsatz für die Armen und Schwachen ist ein Grund, warum sich das Christentum im Römischen Reich ausgebreitet hat.
Der barmherzige Samariter im Neuen Testament ist bis heute das Vorbild des Helfens – selbst für Menschen anderer Religion oder Weltanschauung. Tillmann Bendikowski zeichnet nach, welche Anstöße für eine Kultur des Helfens die Erzählung aus dem Lukas-Evangelium birgt (Lukas 10,25-37).
Die Hilfe des barmherzigen Samariters beginnt mit dem Mitleiden. Sie erfolgt spontan. Der Samariter lädt sich aber auch nicht die ganze Verantwortung alleine auf. Er sucht einen Ort, wo der Hilfsbedürftige gut aufgehoben ist, und einen Mitstreiter, den Wirt. Er lässt sich die Hilfe etwas kosten – aber Kontrolle über den Einsatz der Hilfsmittel gehört selbstverständlich dazu. Schließlich: Seine Hilfe ist keine grenzenlose Selbstaufopferung. Der Samariter zieht weiter und geht seinen Geschäften nach, nachdem er das Seine für den anderen getan hat.
Am Ende der Erzählung dreht Jesus den Spieß um. Er fragt den Gesetzeslehrer: „Wer von diesen dreien (Priester, Levit oder Samariter), meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Der Gesetzeslehrer kann nicht anders, er muss zugeben: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Das Wort Samariter kommt ihm nicht über die Lippen. Ihn, nicht das Opfer nennt Jesus den Nächsten. Den verhassten Andersgläubigen soll der Gesetzeslehrer lieben wie sich selbst.
Der Schlusssatz von Jesus wirkt bis heute nach: „So geh hin und tu desgleichen!“

Tillmann Bendikowski: „Helfen. Warum wir für andere da sind“. Bertelsmann Verlag 2016, 352 Seiten, 19,99 Euro.