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“Das Wichtigste ist das Sehen”: Fotografin Barbara Klemm wird 85

Sie hat den richtigen Blick für die großen Momente. Breschnew und Honecker beim sozialistischen Bruderkuss, Wolf Biermann 1976 nach dem Kölner Konzert, das den Anstoß für seine Ausbürgerung gab, die Öffnung des Brandenburger Tors: Etliche der Fotografien von Barbara Klemm gehören zum visuellen Gedächtnis der Deutschen. Am 27. Dezember wird sie 85 Jahre alt.

„Ich bin sehr glücklich über mein Leben, wie es gelaufen ist“, sagt die Fotojournalistin und Künstlerin in der für sie so typischen, nüchternen Bescheidenheit kurz vor ihrem Geburtstag. Natürlich freue sie sich über zahlreiche Auszeichnungen, Ausstellungen und Bücher, in denen ihre Alltagsszenen aus aller Welt, Dokumentationen politischer Ereignisse oder Prominentenporträts als „Ikonen der Fotografie“ gefeiert werden. Vor allem aber wollte sie „Fotos machen, mit denen ich selbst zufrieden bin“, erzählt sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Und das hat sie getan, jahrzehntelang. Besonders in ihrer Zeit als festangestellte Pressefotografin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von 1970 bis zum Beginn des Ruhestandes 2005 hat sie das Zeitgeschehen mit ihrer Leica eingefangen, historische Schlüsselmomente dokumentiert.

Sei es – ganz unspektakulär – Heinrich Böll auf einem Stühlchen auf einer Friedensdemo 1983, sei es das nachdenkliche Gespräch des sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew 1973 mit Willy Brandt (SPD) oder eine junge Frau auf der Berliner Mauer 1989, die sich lachend zu einem Grenzer hinabbeugt: Es sind intensive Momente, die von Licht und Schatten der Schwarz-Weiß-Fotografie leben und sich beim Betrachten in der inneren Bilderwelt verankern. „Schwarz -Weiß ist Farbe genug“, findet Barbara Klemm und ist so zur unverwechselbaren Chronistin geworden. Bis heute hat sie nichts übrig für digitale Farbfotografie mit Selfies, Blitzlicht und inszenierten Posen.

Geboren 1939 in Münster, aufgewachsen in Karlsruhe in einem Künstlerhaushalt mit fünf Geschwistern, absolvierte sie schon früh eine Fotolehre und zog mit knapp 20 nach Frankfurt am Main. „Es war eine schwierige Zeit damals, wir haben eng gewohnt, und jeder musste mit anpacken“, erzählt sie. Aber durch den Vater Fritz Klemm, der an der Kunstakademie lehrte, und die Mutter Antonia, eine Bildhauerin und geborene Gräfin von Westphalen, war sie von Kindheit an mit Kunst vertraut. Viele ihrer Fotos erinnern in ihrer Komposition an Kunstwerke alter Meister.

„Natürlich ist eine gewisse Begabung wichtig und dass man die Technik beherrscht“, lässt Barbara Klemm jene wissen, die die lebhafte Künstlerin mit dem kritischen, offenen Blick nach dem Geheimnis ihres Erfolgs fragen. „Aber das Wichtigste ist das Sehen“, lautet ihr Credo. Das gilt in vertrauter Umgebung ebenso wie bei ihren Reisen als „FAZ“-Bildjournalistin nach Peking und Moskau, Tunis und Tel Aviv, nach Galizien oder in die Mongolei – und immer wieder in die DDR.

Fast immer sind Menschen im Zentrum, die sie oft unbeobachtet, unverstellt und mit großer Empathie in ihren Bildern würdigt: die obdachlose Familie mit ihrem Hab und Gut unter einer Brücke in Kalkutta, die Erntearbeiterinnen am Feldrand in Rumänien oder drei langhaarige junge Väter mit Kinderwagen beim Spaziergang. „Mich haben immer die kleinen Menschen interessiert, nicht die Reichen“, sagt Barbara Klemm. Gelegentlich kann das dann auch mal entlarvend sein. Ihr Foto von dickbäuchigen NPD-Saalschützern 1979 in Frankfurt etwa, die behelmt und wichtigtuerisch dastehen – es soll die NPD viele Wählerstimmen gekostet haben.

Daneben ist Barbara Klemm auch für ihre eindrücklichen Porträts von Prominenten bekannt: von Kulturschaffenden wie Andy Warhol, Joseph Beuys und Simone de Beauvoir etwa, oder von Politikern wie Helmut Kohl (CDU) und Joschka Fischer (Grüne). Auch hier sucht sie Momente ohne Pose, in denen der private Mensch sichtbar wird. „Da muss man sich selbst zurücknehmen und dem anderen Raum geben“, sagt die Fotokünstlerin. „Ich will ja niemanden abschießen – Fotoshooting – das finde ich grauenhaft.“

Stattdessen geht es um ein konzentriertes Beobachten – und bei Presseterminen um die Selbstbehauptung im Pulk der Fotografen: „Ein gutes Bild ist harte Arbeit und fällt einem nicht einfach in den Schoß.“ Die Kunstpublizistin Barbara Catoir spricht von der „suggestiven Kraft“ in Klemms Fotos: „Ihre Kunst bewährt sich am Sensationslosen, am Alltäglichen.“

Und der 85. Geburtstag? Bloß kein großer Bahnhof, sagt Barbara Klemm, die Feier finde im kleinen Kreis in Karlsruhe statt. Und auch die Kamera bleibt mittlerweile zu Hause. In den ersten Jahren nach Beginn des Ruhestandes war sie immer dabei, wunderbare Landschaftsbilder sind entstanden. Aber das ist vorbei. „Ich will kein altersschwaches Werk machen“, sagt sie und setzt einen energischen Schlusspunkt. „Im Laufe des Alters wird man einfach zu langsam: Ich hab‘ genug gemacht.“

Genug auch für zahlreiche Ausstellungen: Noch bis zum März ist eine Barbara-Klemm-Schau in Leipzig zu sehen, ab Mai werden einige Werke in der Gemeinschaftsausstellung „Neugier, Mut, Abenteuer. Fotografinnen auf Reisen“ in Ingelheim gezeigt, die sie selbst mit vorbereitet.