Christel Liedtke hat drei Leben. Als sie in das dritte eintrat, sagte ihr eine Freundin: „Du kommst aus dem tiefsten Mittelalter in die Neuzeit.“ Das war vor 28 Jahren. Damals ging Christel Liedtke in Rente – ihr drittes Leben, wie sie es nennt. Sie unterschrieb zum ersten Mal in ihrem Leben einen Mietvertrag und versorgt sich seitdem komplett selbst.
Vorher – in ihrem zweiten Leben – war sie Diakonieschwester. Ihr gesamtes Arbeitsleben trug sie Schwesterntracht und wohnte in möblierten Zimmern, die ihr zur Verfügung gestellt wurden.
Mit dem Rad vom Harz zurück nach Wuppertal
Christel Liedtke sitzt auf der Terrasse ihrer Mietwohnung in Mülheim. Sie blättert in einem Fotoalbum und blickt auf ihr Leben zurück.
Wie alles begann: „Als mein erstes Leben bezeichne ich meine Kindheit und Jugend – die Zeit, bevor ich Schwester wurde“, sagt die 90-Jährige. Sie wurde in Wuppertal geboren und wuchs dort auf. „Meine Jugend war von der Nazi-Zeit geprägt. Ich musste in den Harz zum Arbeitsdienst“, erzählt sie. Als der Krieg zu Ende war, schlug sie sich mit einem Fahrrad nach Wuppertal durch. „Wieder zu Hause hatte ich damals keine Ahnung, wie es weitergehen soll, was ich mit meinem Leben anfangen soll.“
Eine Bekannte brachte sie auf die Idee, Krankenschwester zu lernen. Sie war selbst Kinderkrankenschwester „und so etwas wie ein Idol für mich“, so Christel Liedtke, die daraufhin dem Evangelischen Diakonieverein Berlin-Zehlendorf beitrat.
Das zweite Leben: „Ich habe eine gute Ausbildung genossen“, sagt Christel Liedtke. Viele Jahre hat sie in verschiedenen Krankenhäusern in Deutschland gearbeitet. In Düsseldorf, Mülheim, Göttingen, Oberhausen und Berlin. „Wir haben uns das nie ausgesucht, sondern wurden dahin geschickt, wo jemand gebraucht wurde.“ Dieses Prinzip stellte sie nie in Frage. Über eine Versetzung habe sie sich besonders gefreut: „Für zwei Monate wurde ich für ein Praktikum nach Rom geschickt. Das war wunderbar“, schwärmt sie. „Ich hatte nicht viel Geld und alles, was ich dabei hatte, habe ich bei einem Ausflug nach Assisi ausgegeben“, erinnert sie sich. „Das Geld für die Heimfahrt musste ich mir leihen.“
Christel Liedtke war Krankenschwester mit Leib und Seele. „Wir hatten noch ein ganz anderes Verhältnis zu Ärzten und Patienten“, erzählt sie. „Mit Ärzten haben wir auf Augenhöhe gesprochen und für die Patienten hatten wir Zeit und konnten eine Beziehung aufbauen.“ Die heutigen Verhältnisse schätzt sie so ein: „Die Chirurgen bringen mit ihren Operationen das Geld, Schwestern kosten und Patienten werden viel zu schnell entlassen.“ Es fehle heute an Zeit und Zuwendung. „Aber so ist das – es ändert sich vieles.“
Apropos Veränderung: Bereits ihre Eltern lasen die Kirchenzeitung. In Wuppertal war das damals „Der Weg“ – die Schwesterzeitung von UK. Für Christel Liedtke war klar, dass sie ebenfalls die Kirchenzeitung liest. „Doch dann wurde die Zeitung leider eingestellt. So kam ich auf UK, denn ohne Kirchenzeitung geht es für mich nicht.“ Sie mag UK. „Auf den Leserreisen habe ich gute Freundschaften geschlossen.“
Und nun das dritte Leben: Entgegen den Annahmen vieler Freundinnen und Bekannten, hatte Christel Liedtke als Rentnerin kein Problem, ihre Zeit zu füllen. „Alle meinten, ohne Arbeit kann ich nicht sein“, berichtet sie. „Aber das kann ich sogar gut.“ Sie hat sich in vielen Bereichen ehrenamtlich engagiert – zum Beispiel in Gemeindekreisen, beim Besuchsdienst in Seniorenheimen und in einer Handarbeitsgruppe.
Aber auch privat pflegte sie Hobbies und Kontakte. „Viele Jahre bin ich mit Freundinnen regelmäßig in die Sauna oder zum Kegeln.“ Auch einen Kochkurs hat sie damals belegt. „Ich hatte ja als Schwester eine Rundumversorgung und konnte weder kochen noch backen, als ich in Rente ging.“ Der Kochkurs machte ihr nicht viel Spaß. „Da war ich unter lauter jungen Frauen, die viel besser kochen konnten als ich.“ Der Backkurs sei mehr ihr Ding gewesen, da gab es mehr Gleichaltrige. „Bis heute ist es so, dass ich lieber backe als koche.“
Die Schwestern sind zur Familie geworden
Zum Beispiel wenn Freundinnen zu Besuch kommen. „Aber das wird seltener. Viele Weggefährtinnen sind bereits gestorben“, sagt sie. Von ihrer Familie lebt niemand mehr. „Manchmal finde ich es schon schade, dass ich niemandem aus der Verwandtschaft erzählen kann, was aus meinem Leben so geworden ist.“ Hätte sie sich manchmal eine eigene Familie gewünscht? „Nein, nie“, sagt sie überzeugt. „Es gab wenig Männer, die meisten sind im Krieg geblieben. Die Schwesternschaft ist für mich zur Familie geworden.“
Und noch etwas ist ihr wichtig: „Durch das Leben als Schwester bin ich in den Glauben hineingewachsen.“ Der Glaube macht sie gelassen im Umgang mit ihrem Alter und im Hinblick auf das Lebensende. „Ich könnte morgen sterben, das wäre in Ordnung“, meint sie. „Aber wenn Gott mich noch ein bisschen hier haben will, dann bleibe ich auch noch.“ Das vierte Leben hat noch Zeit.