Erfurt (epd). Der Schriftsteller Ingo Schulze hofft darauf, dass sich die Gesellschaft nach Corona solidarischer organisiert. «Dass das kapitalistische Wettbewerbsprinzip, wo es am Platz ist, eingesetzt wird, es aber nicht mehr als für jeden Lebensbereich anzuwendender geheiligter Mechanismus angesehen wird», sagte Schulze dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Erfurt. Im Gesundheitswesen zum Beispiel habe dieses Prinzip nichts zu suchen.
• epd: Ausgefallene Buchmesse, abgesagte Lesungen: Hat das Coronavirus Sie um die Früchte Ihrer Arbeit – den neuen Roman «Die rechtschaffenen Mörder» – gebracht?
Schulze: Ich würde denken nein. Man kann es doch auch so sehen, dass viele Menschen jetzt plötzlich mehr Zeit zum Lesen haben. Es gibt keine Lesungen, die wenigsten Veranstalter können Ausfallhonorare zahlen. Und natürlich werden auch Bücher bei den Lesungen verkauft, was zusammengenommen gar nicht so wenige sind. Da will ich lieber nicht dran denken. Aber bisher gab es kein Buch von mir, auf das ich so viele und so schnelle Reaktionen erhielt. Es ist in dieser Woche ziemlich weit oben auf der Bestsellerliste, was mir auch noch nie passiert ist. Ich darf mich also nicht beklagen.
• Ihr Roman erzählt die Geschichte des Dresdener Antiquars Norbert Paulini, der schon in der DDR vor allem für seinen Beruf lebt. Später rutscht er immer weiter in die rechte Szene ab. Hatten sie schon einen Termin in ihrer Geburtsstadt?
Ich hätte dort vergangene Woche lesen sollen. Diese Lesung ist bisher auch die einzige, für die es einen neuen Termin gibt, den 5. Juni. Ob es dazu kommen wird, steht tatsächlich in den Sternen.
Ich bin in Dresden geboren und aufgewachsen. Seit vielen Jahren aber komme ich eigentlich nur noch in die Stadt, um Freunde zu besuchen oder zu Lesungen, ich bin also wirklich nur noch Gast. Aber Dresden als Ort hat in meinen Büchern Tradition: «Peter Holtz» spielt vor allem in Berlin, hat aber längere Dresdner Passagen, das gilt noch mehr für «Neue Leben».
• Warum nicht Jena, wo sie studierten?
Grundsätzlich würde der Roman dort auch funktionieren. Jena ist eine Universitätsstadt und hat großartige Buchläden. Ich habe mir dort, vom Buchhändler Gunther Philler, erzählen lassen, wie es war zu DDR-Zeiten, während des Übergangs und danach. Es gab für den Roman so etwas wie einen Nukleus, ein Antiquariat in Dresden-Blasewitz. Das Antiquariat Carl Adler wurde von Hans-Georg Kühnel geführt. Ich selbst war nur ein, zwei Mal dort; es war auf medizinische Literatur spezialisiert. Jetzt las ich aber, dass etwa Franz Fühmann oder der Kunsthistoriker Lothar Lang dort ein- und ausgegangen sein müssen.
• Hat die Wahl Dresdens nicht doch damit zu tun, dass dort der rechte Zeitgeist gerade richtig erblüht?
Naja, ich will die Handlung jetzt nicht gleich nach Schnellroda verlegen, aber man könnte sie auch auf dem Land in Thüringen spielen lassen. Nun ist Dresden schon lange so merkwürdig konservativ gewesen. Ich fand es bezeichnend, dass die Ost-CDU immer wieder für ihre Parteitage nach Dresden kam.
• Warum tun sich die Menschen mit der Fiktion so schwer und bestehen auf Historizität?
Das ist leider unausrottbar. Im Interview mit dem «Spiegel» war das gerade auch wieder so; da hieß es, der ist doch dieser und der jener. Das ist diese merkwürdige Sehnsucht nach dem Schlüsselroman. Es ist aber immer zweifelhaft, Literatur vor allem inhaltlich zu definieren.
• Ihr Roman schildert das Abdriften eines gebildeten Menschen in die rechte Ecke. Wie erklären Sie den Erfolg der Rechtpopulisten gerade im Osten?
Ich muss vorausschicken, dass man für den Versuch, gegenwärtige Prozesse zu verstehen, gar nicht weit genug in die Vergangenheit zurückgehen kann. Beispielsweise haben in den katholischen Gebieten Deutschlands 1933 sehr viel weniger Hitler gewählt als in nichtkatholischen. Trotzdem würde ich sagen, dass der demokratisch beschlossene Beitritt viel damit zu tun hat. Viele, die damals de Maizière oder Kohl gewählt haben, hatten keine Vorstellung, was passieren würde. Wobei jeder wissen konnte, was passiert, wenn man von heute auf morgen die D-Mark einführt.
• Was zählen Sie dazu?
Das hat zu ökonomischen, sozialen aber natürlich auch biografischen Entwertungen geführt. Das eigene Selbstverständnis findet sich ausgerechnet in dem Moment, da man freie Medien hat, nicht mehr in der Öffentlichkeit wieder. Verwerfungen in dieser Form hat es im Westen nicht gegeben. Auch wenn die Städte und Dörfer in den östlichen Bundesländern inzwischen keinesfalls schlechter aussehen, sagt das nichts über die Besitzverhältnisse und Teilhabe
aus. Das sind alles Fragen, die in größere Konfliktzusammenhänge gehören: Oben und unten spielt dabei immer eine Rolle. Aber auch: Wer sitzt an den Schalthebeln, welche Sozialisation haben diese Menschen erlebt?
• Aber warum gerade die extremen Rechten?
Zum einen ist der Osten sehr bewusst von Rechtsextremen als neues Gebiet gewählt worden. Da steckt ein Plan und eine Logistik dahinter. Die maßgebenden Führungskräfte und das Geld kommen aus dem Westen. Wichtiger ist aber, dass Nationalisten und Rassisten den Osten positiv besetzen. Da wird viel mit Halbwahrheiten gearbeitet, Richtiges steht neben äußerst kruden Dingen – etwa, dass hier die Deutschen noch deutscher, unverdorben von der Internationalisierung sind. Unterm Strich kommt stets heraus: Der Osten ist besser als der Westen. Da aber sonst der Osten unentwegt problematisiert wird und sich rechtfertigen muss, horcht man da erst mal auf.
• Ganz erklärt das die Anfälligkeit des Ostens für die AfD aber nicht …
… stimmt. Für mich zeigt sich in dieser Frage keine Folgerichtigkeit. Man kann es nicht wirklich erklären, aber man kann Dinge aufzählen, die es begünstigen. Wenn nur 1,7 Prozent der Führungskräfte aus dem Osten kommen, und sie selbst im Osten in der Minderheit sind, ist das eine Schieflage, die, das muss dazu gesagt werden, grundsätzlich erst mal nichts über den Einzelnen aussagt.
Aber in der Gesamtheit sagt es eben doch etwas über das Land aus. Das ist natürlich kein Grund, sich mit der AfD einzulassen – ich finde überhaupt keine Gründe, warum man sie wählen sollte. Ein Erklärungsversuch sollte aber das West-Ost-Gefälle berücksichtigen.
• Wer Antworten sucht, findet sie vielleicht auf den gut 300 Seiten ihres Romans – denn davon handelt er doch?
Naja. Ich antworte auf die Frage, worum es in meinen Büchern geht, stets mit Inbrunst: Es geht immer um alles. Es geht immer um Liebe und um die Frage, warum bin ich auf der Welt. Was ist mein Glück? Mein Unglück? Als Leser merke ich das schnell, wenn etwas fehlt. Wenn ich zum Beispiel nicht erfahre, wie eine Figur ihr Geld verdient, finde ich das unbefriedigend.
• Die besten Geschichten soll ja das Leben schreiben. Hätten sie sich solch dramatische Veränderungen im Zuge der Corona-Krise nur vor wenigen Wochen vorstellen können?
Das habe ich so nicht erwartet. Aber wir haben das doch 1989 erlebt, dass man sich nicht vorstellen konnte, nur ein gutes Jahr später Bundesrepublik zu sein. Die Finanzkrise kam ja noch schneller, von daher sollten wir schon immer mit einrechnen, dass sich sehr schnell etwas verändern kann. Was die besten Geschichten angeht: Ich bin der Meinung, dass das Leben die Literatur nachahmt.
• Sehen Sie auch eine Chance in der Krise?