Artikel teilen:

“Das Gewissen der Nation”

Der „Urwalddoktor“ Albert Schweitzer, der Geiger Yehudi Menuhin, die Schriftsteller Hermann Hesse und Astrid Lindgren, Vaclav Havel und Salman Rushdie – sie alle haben den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Insgesamt 75 Preisträger und Preisträgerinnen gibt es. Am 3. Juni 1950 wurde der Preis das erste Mal verliehen. Geehrt wurde der in der Nazizeit ins Exil geflohene Lektor und Autor Max Tau (1897-1976). Eine Romanlektüre in aufgewühlter Zeit gab zur Verleihung den Anstoß.

Der Schriftsteller Hans Schwarz (1890-1967), der die Nazizeit in Deutschland verbracht hatte, las nach Kriegsende 1946 den in Oslo veröffentlichten Roman „Glaube an die Menschen“ seines Freundes Max Tau. Der Roman war von den Gedanken eines religiösen Idealismus und einer grundlegenden Völkerversöhnung geprägt, wie der Mainzer Buchwissenschaftler Stephan Füssel darlegt. Schwarz war begeistert. Er schrieb an Tau: „Wenn ich einen Friedenspreis zu vergeben hätte, Du würdest ihn zuerst bekommen.“ Tau schrieb zurück: „Vielleicht hast Du einen Friedenspreis zu vergeben?“

Schwarz gewann den Verleger Friedrich Wittig und weitere zur Finanzierung. Am 3. Juni 1950 wurde der Friedenspreis in Hamburg im Haus des Weingroßhändlers Eduard Buhbe an Max Tau verliehen. Tau gab vor: „Was dem Politiker nicht gelungen ist, das muss dem Geist und der neuen Literatur gelingen – die Wiedererweckung des Vertrauens, die Ehrfurcht vor dem Leben und den Respekt vor dem Menschen zu erneuern.“

Als Glücksgriff erwies sich, dass Schwarz den Intendanten des neu gegründeten Nordwestdeutschen Rundfunks, Adolf Grimme, als Preisredner gewann. Grimme sorgte dafür, dass die Verleihung im Rundfunk übertragen wurde. Dies löste eine starke Resonanz in der Presse aus. Von Anfang an wurde die Verleihung des Friedenspreises auch ein Medienereignis und damit ein öffentlicher Akt.

Verleger Wittig trug die Idee in den Börsenverein Deutscher Verleger- und Buchhändler-Verbände. Der Vorstand begrüßte die Stiftung eines Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und beschloss, ihn im Herbst im Rahmen der Frankfurter Buchmesse in der wiederaufgebauten Paulskirche zu verleihen, dem Tagungsort der Nationalversammlung von 1848. Der erste dort 1951 Geehrte war der „Urwalddoktor“ und Theologe Albert Schweitzer, die Lobrede hielt Bundespräsident Theodor Heuss.

Jährlich werden dem Börsenverein 120 bis 150 Personen für den Friedenspreis vorgeschlagen, wie der Leiter der Friedenspreis-Geschäftsstelle, Martin Schult, berichtet. Die Auswahl im Konsens habe immer geklappt. Die Preisverleihung löste im Lauf der Jahre auch öffentliche Kontroversen aus. So provozierte die Verleihung an den senegalesischen Dichter und Präsidenten Léopold Sédar Senghor 1968 eine Demonstration von Studierenden, gegen die die Polizei Wasserwerfer einsetzte.

1995 sagte die nominierte Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel in einem Fernsehinterview, der Roman „Satanische Verse“ des Schriftstellers Salman Rushdie verletze die Gefühle von muslimischen Gläubigen. Ihr wurde daraufhin unrechtmäßig unterstellt, sie billige den Mordaufruf des iranischen Ayatollah Khomeini gegen Rushdie. Autoren und Verlage forderten die Rücknahme der Nominierung. Doch Schimmel wurde geehrt, die Lobrede übernahm Bundespräsident Roman Herzog. 2023 ging der Friedenspreis an Rushdie.

Eine hitzige Auseinandersetzung löste die Dankrede des Schriftstellers Martin Walser 1998 aus. Es ging um die Bedeutung der NS-Geschichte für die Gegenwart. Walser sagte unter anderem, Auschwitz eigne sich nicht als „Moralkeule“ oder „Pflichtübung“. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, warf Walser daraufhin „geistige Brandstiftung“ vor. Die Debatte habe „wie in einem Brennspiegel die Defizite im Identitätsdiskurs der Deutschen“ gezeigt, kommentierte der Literaturwissenschaftler Wolfgang Frühwald.

Im Lauf der 75 Jahre ist der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels „das Gewissen der Nation“ geworden, findet die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die mit ihrem Mann Jan 2018 selbst geehrt wurde. Die Lobrede und die Dankesrede auf der Kanzel der Frankfurter Paulskirche seien eine „säkulare Sonntagspredigt“, die der Aufgabe nachkomme, „ins Gewissen zu reden und den moralischen Kompass neu auszurichten“. Die Rednerinnen und Redner erinnerten an die Grundfragen der Existenz: „Was sind wir für eine Gesellschaft? Wo kommen wir her? Wer wollen wir sein?“.

Die Verleihung wirkt auch auf die Preisträger, wie Assmann im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) schildert: „Es war eine Wende in unserem Leben, eine unerwartete Beförderung von einer Privatperson zu einer öffentlichen Person.“ Die Kulturwissenschaftlerin resümiert: „Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist die längste kulturpolitische Institution in Deutschland, die zudem Zukunft hat. Er spiegelt alle Transformationen unserer Gesellschaft und reaktiviert jedes Jahr den Gründungspunkt unseres Staates.“ Assmann ist überzeugt: „Jede Verleihung ist ein Fest der Demokratie.“