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Da bin ich zu Hause

Einander die Hand geben, sich dabei ins Gesicht sehen: Muss man das tun, wenn man in Deutschland lebt? Die Diskussion um die Leitkultur ist neu entfacht. Warum das nicht schlecht sein muss

Als ich das erste Mal von einer Reise als Foto-Reporter in Afrika zurückkehrte, sah ich die Welt daheim mit anderen Augen. Straßen ohne Löcher. Kanalisation. Polizisten, zu denen man hingeht, wenn man Hilfe braucht. Und nicht vor ihnen wegläuft, weil sie die noch größere Gefahr darstellen. Ich spürte ein warmes Gefühl. Ich war zu Hause.

Zu Hause? Zehn Jahre zuvor hätte ich Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit als „deutsch“ verspottet und als „Sekundärtugenden“ abgetan. Jetzt war ich dankbar dafür. Mir erschloss sich der Begriff „Heimat“ auf ungeahnte Weise.
Was ist „unser“? Wer sind wir? Was gehört unaufgebbar dazu?

Das ist die Frage beim Begriff „Leitkultur“. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat ihn – wohl auch wegen des Wahlkampfes – aus der Versenkung geholt. Der Aufschrei ist groß. Man dürfe Menschen nicht auf solche Forderungen festnageln, wie sie de Maizière anführt (darunter Gesicht zeigen und einander die Hand geben). Aber eines hat de Maizière erreicht: Wir reden wieder darüber, ob es Grundlagen gibt, auf die wir uns alle, als Gesellschaft, verständigen können.
Das ist nicht schlecht.

Das Wort „Leitkultur“ ist allerdings ein verbrannter Begriff. Kultur – die ist schon unterschiedlich zwischen Franken und Friesland, Berlin und Ruhla im Thüringer Wald.

Nein, es geht um das sich „leiten“ lassen. Jede Firma, jede Organisation, jede Kirchengemeinde sollte ein „Leitbild“ haben (oder ein „mission statement“, wie es modern heißt). Welche Ziele leiten uns? Wie gehen wir miteinander um? Was ist der Kern unseres Selbstverständnisses? Das sind die notwendigen Fragen.
Denn: Die Gesellschaft ist in Unruhe geraten. An manchen Stellen brodelt sie. Die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen ist eine gewaltige Herausforderung. Der Zusammenbruch des Ostblocks zeigt Langzeitfolgen. Die Globalisierung wälzt die Welt epochal um.

Die Folge: Verunsicherung. Da braucht es umso stärkere Vorstellungen von Zielen und Wegen. Von Werten.

Es ist ja nicht so, als ob wir die nicht schon hätten. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes trägt im Grunde alles bereits in sich. Aber: Sie muss konkret gemacht werden. Was heißt „Menschenwürde“ im Fall eines Asylbewerbers? Was bedeutet „Meinungsfreiheit“ in Zeiten sozialer Medien? „Religionsfreiheit“ angesichts von Fundamentalismus? Hier muss eine Verständigung einsetzen.

Hier spielen dann auch Burka, Schächten und einander die Hand geben eine Rolle – im Blick auf Leitmotive, die möglicherweise dahinterstehen. Genauso müssen aber auch schwarz-rot-goldene Kreuze und der Mob vor Flüchtlingsunterkünften kritisch in den Blick genommen werden, Kaltherzigkeit und Hassrede.

Eine solche Diskussion würde helfen. Wenn wir sie führen könnten, offen und fair, würden wir allein schon damit ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefern, welche Werte uns leiten sollen.