An jedem Tag begehen in Deutschland knapp 28 Menschen einen Suizid und schätzungsweise 500 Personen einen Suizidversuch. Experten betonen, dass viele Todesfälle vermeidbar wären – auch durch Behandlungsangebote.
Experten fordern ein stärkeres gesellschaftliches Engagement gegen Suizide. Es gehe darum, von einer Kultur des Schweigens und des mangelnden Verständnisses zu einer Kultur der Offenheit, des Mitgefühls und der Unterstützung überzugehen, sagte der Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro), Reinhard Lindner, am Wochenende in Kassel. Zum Welttag der Suizidprävention am Dienstag erläutert die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Hintergründe und nennt mögliche Handlungsfelder.
2023 haben sich 10.304 Menschen in Deutschland durch Suizid das Leben genommen. Dies waren 184 Fälle mehr als im Jahr zuvor und die höchsten Zahlen seit 1995. Das bedeutet, dass täglich knapp 28 Menschen einen Suizid begehen. Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen zusammen. Die Höchstzahl der Suizide in Deutschland lag 1981 bei 18.825.
Nach Schätzungen des Nationalen Suizidpräventionsprogramms unternehmen jährlich weit über 100.000 Menschen einen Suizidversuch. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe spricht von schätzungsweise 500 Personen pro Tag.
Im langfristigen Vergleich ist die Zahl der Suizide nach einem deutlichen Rückgang in den 1980er und 1990er Jahren in den vergangenen 20 Jahren jedoch relativ konstant geblieben. Im 20-Jahresvergleich ging die Zahl der entsprechenden Todesfälle um knapp 8 Prozent zurück (2003: 11.200 Fälle). Gegenüber 1980, dem Beginn der Zeitreihe mit 18.500 Suiziden nahm die Zahl der entsprechenden Todesfälle 2023 um 44 Prozent ab.
Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass von jedem Suizid durchschnittlich etwa sechs nahe Verwandte und Freunde betroffen sind. Für Hinterbliebene sei es wichtig, dass über Suizide offen gesprochen werden könne, ohne dass sie befürchten müssten, ausgegrenzt zu werden, betonen Experten. Sie gehen zugleich davon aus, dass weitere Menschen aus dem näheren Umfeld von einem Suizid betroffen sein können, darunter Arbeitskollegen, Mitschüler, Ärzte und Therapeuten, aber auch Polizisten, Feuerwehrangehörige sowie Zeugen suizidaler Handlungen.
In allen Altersgruppen sterben deutlich mehr Männer durch Suizid als Frauen. Zudem wird Selbsttötung zunehmend ein Phänomen des höheren Lebensalters. So ging die Zahl der Suizide unter jungen Menschen deutlich stärker zurück als die entsprechenden Fälle insgesamt: Starben 2003 noch gut 700 unter 25-Jährige in Deutschland durch Suizid, so waren es im vergangenen Jahr knapp 500. Die Suizidrate in dieser Altersgruppe sank im selben Zeitraum von 3,3 auf 2,4 je 100.000 Einwohner. Auch wenn die Zahl der Fälle in den jüngeren Altersgruppen geringer ist, so ist die suizidbedingte Sterblichkeit gerade bei jungen Menschen besonders hoch. Bei den 10- bis unter 25-Jährigen war Suizid 2023 die häufigste Todesursache, vor Verkehrsunfällen und Krebs.
Unter älteren Menschen nahmen dagegen die Selbsttötungen binnen 20 Jahren teilweise deutlich zu. Am stärksten war der Anstieg in Altersgruppe 85plus: Hier hat sich die Zahl der Suizide von 600 im Jahr 2003 auf knapp 1.300 im Jahr 2023 mehr als verdoppelt; die Suizidrate nahm von 42,4 auf 45,7 zu.
Diese Entwicklungen sind zumindest teilweise auf demografische Effekte zurückzuführen. So hat sich die Zahl der Menschen im Alter von 85 Jahren und älter in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt (plus 110 Prozent), was in etwa auch dem Anstieg der Suizide in dieser Altersgruppe entspricht. Die Rückgänge in der Bevölkerung unter 25 Jahren (minus 6 Prozent) und in der Altersgruppe 35 bis 44 Jahre (minus 22 Prozent) fielen jedoch deutlich niedriger aus als bei den Todesfällen durch Suizid.
Für Selbsttötungen sind nach Einschätzung der Experten immer vielfältige Gründe verantwortlich. Weder ein einzelnes Ereignis noch das Vorliegen einer psychischen Erkrankung erklären alleine einen Suizid. “Der Suizid ist Endpunkt einer komplexen und krisenhaft erlebten Entwicklung, an deren Ende der Betroffene psychisch nicht mehr in der Lage ist, Hilfe anzunehmen und einen anderen Ausweg für sich zu erkennen”, heißt es. Der Verlust des Arbeitsplatzes, wirtschaftliche Bedrohung und Armut, traumatische Erlebnisse, der Verlust nahe stehender Personen, Rückzug und soziale Isolation gelten als Risikofaktoren.
Betroffenen fällt es zumeist schwer, über ihre Suizidgedanken mit einem Arzt oder Therapeuten zu sprechen. Laut Studien haben Menschen vor einem vollendeten Suizid viel häufiger als üblich einen Arzt aufgesucht, der die Gefährdung aber nicht erkannte. Häufig besteht eine Angst darin, nicht ernst genommen zu werden, soziale Kontakte zu verlieren, als psychisch krank bezeichnet zu werden und die Selbstbestimmung durch zwangsweise Behandlung zu verlieren. Außerdem haben nicht wenige die Vorstellung, dass sie niemand verstehen und niemand ihnen helfen könne.
Angehörige sollten Suizidankündigungen immer ernst nehmen, betont die Stiftung Depressionshilfe. Äußerungen wie: “Es hat alles gar keinen Sinn mehr…” sind bei depressiven Menschen Hinweise auf eine ernste Gefährdung. Freunde oder Familienangehörige sollten keine Scheu haben, genauer nachzufragen, raten die Experten. Oft ist es für einen suizidgefährdeten Menschen eine Entlastung, mit einer anderen Person über die quälenden Gedanken sprechen zu können. Die Stiftung Depressionshilfe mahnt zudem, sich mit gut gemeinten Ratschlägen zurückzuhalten. Eine Befragung unter Betroffenen ergab, dass scheinbar schlichte Botschaften oft am meisten helfen, zum Beispiel: “Du bist mir wichtig”, “ich versuche, diese Krankheit zu verstehen” oder “wir schaffen das zusammen”.
Lebensmüde Gedanken kommen nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention im Rahmen von Lebenskrisen auch in der gesunden Bevölkerung vor. Suizide erfolgen hingegen fast immer vor dem Hintergrund einer nicht optimal behandelten psychischen Erkrankung, am häufigsten einer Depression, aber auch bei Schizophrenie, Suchterkrankungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Deshalb sind ausreichende Behandlungsangebote wichtig. Wer etwa an einer Depression leidet, sollte in jedem Fall professionelle Hilfe suchen. Der erste Ansprechpartner ist der Hausarzt, der Betroffene an einen Psychotherapeuten oder Psychiater überweisen kann. Wer unsicher ist, kann sich an das Info-Telefon Depression wenden (0800-3344533) oder an die Telefonseelsorge (0800-1110111, 0800-1110222 oder 116123, auch per Chat oder Mail). Es gibt auch Selbsthilfegruppen und Beratungsangebote, etwa beim Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. Besteht eine akute Lebensgefahr, sollten Betroffene umgehend die nächste psychiatrische Klinik aufsuchen oder den Notarzt unter 112 rufen.
Eines der wirksamsten Mittel ist nach Expertenangaben – soweit möglich – die Einschränkung der Verfügbarkeit von Suizidmethoden (Waffen, Medikamente, Chemikalien, Absicherung von Bauwerken). Wichtig sind außerdem niedrigschwellige Behandlungsangebote, die Fortbildung in medizinischen und psychosozialen Berufen, die Förderung der Früherkennung und nicht zuletzt ein gesellschaftliches Klima, in welchem die Suizidproblematik ernst genommen wird.
Bei der Entscheidung ging es um wirklich frei verantwortete Suizide. Das Gericht hat sie als zentralen Ausdruck von Selbstbestimmung gewertet. Im Umkehrschluss haben die Richter aber dazu ermuntert, einen Rahmen zu setzen, damit Suizide nicht durch äußeren Druck oder aufgrund von Depressionen erfolgen. Im Sommer 2023 hat der Bundestag Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit überwältigender Mehrheit aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur Suizidprävention vorzulegen; das ist bislang nicht geschehen. Eine vom Parlament ebenfalls geforderte Nationale Präventionsstrategie, zu der auch etwa das Bau- und andere Bundesministerien und die Länder gefragt waren, hat das Gesundheitsministerium im Mai veröffentlicht.