Als Kind besuchte ich oft meine Großmutter in der Reichsstraße in Neu-Westend im heutigen Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Wenn sie einkaufen ging, sagte sie oft: „Wir gehen heute bis zum Reichskanzlerplatz (heute Theodor-Heuss-Platz) hoch …“ Daran erinnerte ich mich, als das neue Buch von Nora Bossong angekündigt wurde. Was kann sich an diesem Ort abgespielt haben, in dessen Mitte seit 1955 eine „Ewige Flamme“ die Vollendung der Einheit Deutschlands anmahnt und an die Opfer von Krieg und Vertreibung erinnert?
Zur nationalen Mutter-Ikone stilisiert
Es geht um die faszinierende und doch auch erschreckende Lebensgeschichte der späteren Magda Goebbels. Sie wurde Teil der nationalsozialistischen Propaganda und ließ sich zur nationalen Mutter-Ikone stilisieren. Ihr Lebensweg hätte auch völlig anders verlaufen können: Sie wurde von ihrem Stiefvater, dem jüdischen Kaufmann Richard Friedländer adoptiert, besuchte eine katholische Klosterschule. Ihr Vater brachte ihr den Buddhismus nahe. Ihr erster Freund, Chaim Arlosoroff, machte sie mit dem Judentum bekannt. Letztlich konnte sie sich doch nicht zur Auswanderung nach Palästina entschließen.
Stattdessen ermöglichte ihr die Heirat mit dem doppelt so alten Industriellen Herbert Quandt 1920 den Aufstieg in die Hautevolee, die feine Gesellschaft der damaligen Zeit, und hier setzt Bossongs Roman ein. Leser und Leserinnen erhalten aus der Sicht eines Klassenkameraden Hellmuts, des Sohnes Quandts aus erster Ehe, Einblicke in das Familienleben Quandts und der bald einsetzenden Entfremdung zwischen den Eheleuten.
„Wir haben nichts gegen Juden, aber…“
Die Gespräche beider Freunde, ihr mal engeres, mal distanzierteres Verhältnis, zeigen auch den alltäglichen Antisemitismus: „Einen besseren Namen [als Friedländer] hat sie nicht abbekommen. Wir haben nichts gegen Juden, aber in der eigenen Familie muss es ja nicht sein.“ Vor der Ehe mit Quandt musste Magda sogar wieder ihren nichtjüdischen Geburtsnamen annehmen und evangelisch werden.
Schon auf den ersten Seiten spricht der Stiefsohn aus, was im Folgenden immer wieder durchscheint: „Sie wechselt so oft ihren Namen und ihren Glauben … Mama hätte gemerkt, dass [sie] auch unseren Namen nur wie eine Maske trägt.“ So wird Magda Quandt auf ihrem Weg alles dem Ziel unterordnen, ganz nach oben zu kommen.
Allmählich entwickelt sich nicht nur die spannungsvolle Beziehung zum Quandt-Sohn weiter bis hin zur kurzen homoerotischen Eskapade, sondern auch eine Liebschaft des Ich-Erzählers zu Hellmuts Stiefmutter. Hellmut stirbt früh nach einer verpfuschten Blinddarm-Operation.
Nora Bossong spinnt die historisch verbürgte Affäre Magdas zu einem Studenten literarisch weiter, die nach der Scheidung von Quandt von einer Pension am Savigny-Platz in jene Wohnung am Reichskanzlerplatz verlegt wird, die sie sich von der großzügigen Abfindung leisten kann. Von einer NSDAP-Veranstaltung im Sportpalast kommt sie so begeistert nach Hause,
dass sie sofort der Ortsgruppe Neu-Westend beitritt, schon bald die Leitung der dortigen NS-Frauschaft übernimmt und schließlich das Privatarchiv Goebbels verwaltet: „Mit ihm glaubte sie in den Himmel aufzusteigen, und alles darunter überließ sie der Hölle.“ Der Weg führt sie geradezu zwangsläufig in die Ehe mit Joseph Goebbels. Die Handlung entfernt sich dann vom Reichskanzlerplatz. Nora Bossong gelingt es ausgezeichnet, das weiter fortbestehende und wechselhafte Verhältnis zu ihrem Liebhaber in Beziehung zu setzen mit historischen Ereignissen und Personen.
Nichterzähltes schwingt mit
Beiläufig werden die Maßnahmen gegen Juden eingeflochten wie das Verbot, über den Kudamm zu flanieren oder die Ermordung SA-Führers Ernst Röhm und der Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Über viele Wendungen werden einzelne Entwicklungen des Krieges und der Nazi-Zeit mit der persönlichen Geschichte des Ich-Erzählers und seine Beziehung zu Magda Goebbels verwoben. Dabei erschließt sich die titelgebende Verknüpfung mit dem Reichskanzlerplatz nicht zwingend.
Etwa zur selben Zeit wird in den 1930er Jahren, nicht weit entfernt vom Reichskanzlerplatz, die Deutschlandhalle als Propagandaort gebaut und die Familie Bonhoeffer bezieht ganz in der Nähe ihr neues Zuhause. Dort treffen sich Verschwörer des 20. Juli. Das schwingt im historisch-geografischen Kontext Reichskanzlerplatz mit, bleibt aber außer Acht. In Neu-Westend lebten Nazis, Juden und Widerständler in Nachbarschaft – nebeneinander her oder in kritischer Distanz? Man begegnete sich sicherlich oder nahm sich zumindest wahr. Nun ist dieser Roman keine historische Rekonstruktion eines Ortsteiles; dennoch hätte der Stadtteil noch mehr Material für den Roman geboten.
„Zufällig“ Zeitläufte
Nora Bossongs Schreiben fasziniert mit der gelungenen Verknüpfung der historischen und literarischen Erzählstränge. Es bleibt ein doppelter Eindruck: wie „zufällig“ Zeitläufte sein können. Magda Goebbels hätte auch Jüdin werden und in Palästina am Aufbau eines jüdischen Staates mitwirken können.
Zum anderen zeigt die Autorin an der Person Magda Goebbels, wie jene sich selbst zu einer Ikone gestaltet und diesem Idealbild ihr Leben, ihre Persönlichkeit, ihre Kinder und Familie, letztlich alles unterordnet – bis zum finalen tödlichen Ende. Letztlich bleibt ein Erschrecken darüber, wie ganz persönliches Kalkül zur Etablierung der Nazi-Ideologie beitragen konnte.
Nora Bossong, Reichskanzlerplatz, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024