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Beethovens Neunte in strahlenden Tönen und klingenden Farben

Ob das Wiener Publikum am 7. Mai 1824 wohl ahnte, dass es einen historischen Moment erlebt? Den Menschen in der Stadthalle Wuppertal war das am Dienstag jedenfalls klar: Sie hörten ein wirklich einmaliges Konzert.

Eigentlich fehlte nur der wild gestikulierende Beethoven. Beim Festkonzert zum 200. Geburtstag der Neunten Sinfonie am Dienstagabend in Wuppertal wurde die Uraufführung vom 7. Mai 1824 genauso rekonstruiert, wie sie damals im Wiener Theater am Kärntnertor stattgefunden haben dürfte. Da dieses nicht mehr exisitert, wählten die Initiatoren vom Bonner Beethoven-Haus, der Universität Wien, dem WDR und dem Originalklang-Orchester Wiener Akademie unter Leitung von Martin Haselböck die Historische Stadthalle Wuppertal für ihr Projekt “Resound Beethoven 9”.

Und so verwandelte sich das prächtige Konzerthaus aus dem 19. Jahrhundert für drei Stunden in eine Kathedrale aus Klang, zu Ehren und aus der Feder Ludwig van Beethovens (1770-1827). Da neben der Neunten op. 123 in c-moll damals auch die Ouvertüre “Die Weihe des Hauses” sowie drei Hymnen aus der “Missa solemnis” zur Aufführung kamen, wurde auch das Programm übernommen, selbst wenn es einen Konzertabend mit fast drei Stunden nahezu sprengt. Darüber hinaus kamen alle Werke auf Originalinstrumenten und in der von Beethoven vorgegebenen Aufstellung zur Darbietung.

Der Direktor des Beethoven-Hauses, Malte Boecker, sprach denn auch eingangs von einem “Wagnis, das so noch nie eingegangen wurde”. Die rund 1.200 Zuschauer im ausverkauften Konzert, das vom WDR live nach Estland, Lettland, Dänemark, Frankreich und Spanien sowie per Livestream etwa auf ARD-Klassik übertragen wurde, nahmen das Risiko gerne auf sich.

Beim Orchester Wiener Akademie, das seit nahezu 40 Jahren besteht, sind etwa die Streichinstrumente mit Darmsaiten bespannt, nicht mit Metallsaiten. Das Cello hat einen schmaleren Bogen und keinen Stachel, sondern wird zwischen den Beinen gehalten. Die Hörner kommen noch ohne Ventile aus.

Damit wird der Klang etwas weniger strahlend und pointiert, als man es heute gewohnt ist. Doch tat das den drei Spätwerken Beethovens, die zwischen 1817 und 1824 entstanden, keinen Abbruch. Im Gegenteil: Der Ton hatte mehr Patina und mischte sich besser zu insgesamt weicheren Klangfarben.

Ein augenfälliger Unterschied bestand in der Platzierung des Chors, während die Solisten Chen Reiss (Sopran), Sara Fulgoni (Alt), Michael Schade (Tenor), Florian Boesch (Bass) wie üblich an der Seite des Dirigenten Platz nahmen. Dagegen standen die rund 50 Sängerinnen und Sänger des WDR-Rundfunkchors nicht hinter dem Orchester, sondern auf zwei kleinen Emporen unterhalb der Bühne – auf gleicher Höhe oder fast im Rücken von Martin Haselböck. Daher übernahm es WDR-Chefdirigent Nicolas Fink, von der ersten Reihe aus diskret sein Ensemble zu leiten.

Die äußeren Besonderheiten brachten es mit sich, dass die Zuschauer die durchaus bekannten Stücke mit neuen Ohren hörten. So etwa die eindringliche Bitte um inneren und äußeren Frieden, die Beethoven im Agnus Dei (Missa solemnis) formuliert und die – so scheint es – im Schlusssatz der Neunten mit Schillers “Ode an die Freude” ihre Fortsetzung und Vollendung findet. “Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen”, beschwören der Dichter und der Komponist in zu Herzen gehenden Tönen die Gnade Gottes; in Zeiten, in denen Kriege auch Westeuropa beschäftigen, ein Appell von ganz eigener Dynamik.

Fraglos, dass das Festkonzert mit seiner nachdrücklichen Botschaft von Frieden und Menschenliebe einen besonderen Akzent setzte in herausfordernder Zeit. Die Wuppertaler Historische Stadthalle, mit ihren Stuckornamenten, Deckengemälden, Kronleuchtern und ihrer Rechteckform ein typischer Konzertsaal des 19. Jahrhunderts, erwies sich als Glücksgriff. Dank dieser feinen Akustik ist jedes Rascheln glasklar zu hören – und leider auch das Handyklingeln, das ausgerechnet im vierten Satz einsetzte, als zum ersten Mal die Freude-Melodie erklang, in aller Zartheit ausgeführt von den Streichern.

Am Ende gab es für die Ausführenden sieben Minuten begeisterten Beifall, Bravorufe und stehende Ovationen. Die Musiker fielen sich auf der Bühne in die Arme. Ein echtes Abenteuer war bestanden, ein Wagnis geglückt. Gut, dass das Konzert am Mittwoch nochmals wiederholt wird und im Internet nachzuverfolgen ist.