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Aufruf zum Reformationstag: habe Mut, die Kirche zu verändern!

Reformation war gestern. Heute braucht es Selbstermächtigung, schreibt Pfarrer und Sinnfluencer Nico Buschmann in seinem Gastbeitrag. Kirche gehört auf den Prüfstand. Auch wenn es unangenehm wird.

Nico Buschmann ist Pfarrer in Köln, Referent und Sinnfluencer
Nico Buschmann ist Pfarrer in Köln, Referent und Sinnfluencerprivat

Was war das für eine Zeit des Aufbruchs? Im 16. Jahrhundert war das Wort „Reformation“ in aller Munde. Eine nie dagewesene Umwälzung prägte das damalige Europa – und das alles nur, weil ein einfacher Mönch es wagte, kritisch nachzudenken und die Lehren sowie die Praxis der katholischen Kirche infrage zu stellen.

„Reformation“ ist heute eher ein Wort, das Menschen benutzen, wenn sie sich innerhalb ihrer Kirche nach Veränderung sehnen – es ist ein Sehnsuchtswort geworden. Denn wie oft schon wurden teils repräsentativ neue Thesen an Kirchenwände geschlagen, oder vielleicht doch eher mit Tesakrepp geklebt (man will ja nichts kaputt machen), und dennoch: Verändert hat sich wenig. Wenn man auf die Evangelische Kirche in Deutschland schaut, hat man den Eindruck, dass viel an dem alten Gebäude angestrichen wird. Mit dicken Pinseln – mal in knalligen Warnfarben, häufig aber in sanften Pastelltönen. Grob gesagt bleibt es bei „violett“, schließlich will man weiterhin erkennbar bleiben. Es soll hübsch und hip werden, damit auch junge Menschen angesprochen werden. Denn wenn diese wegfallen, wer soll das denn alles noch bezahlen?

Reformationstag: Viele interessieren sich nicht für christliche Feiertage

„Reformation“, dieses Wort, ein Sehnsuchtswort nach grundlegenden Veränderungen, ist zwar nicht in aller Munde, aber hier und dort blitzt es wieder auf. Vor allem am Reformationstag, wenn wir Geburtstag feiern. „Eine feste Burg ist unser Gott“ wird dann tapfer in den Gottesdiensten gesungen, in denen viele Plätze leer bleiben. Gottesdienst mitten in der Woche, ohne Feiertag? Das klappt schon beim Buß- und Bettag nicht. Zumal dieser Feiertag 78 Prozent der Bevölkerung in Deutschland überhaupt nicht interessiert. Was schade ist, denn die Zeit der Reformation hat vielen Entwicklungen in Europa den Weg geebnet: Der Religiösen Vielfalt, Säkularisierungen, Bildungsreformen, der Aufklärung, und, und, und.  Sie war eben nicht nur ein innerkirchlicher Transformationsprozess, sondern ein gesamteuropäischer.

Aus vielen Gründen ist es wertvoll, diesen Tag sehr bewusst zu begehen. Sich gegenseitig von Luther und seinem Mut zu erzählen – das hat etwas Warmes und Verbindendes. Und etwas, das warm und verbindend ist, ist doch schon etwas, oder?

Luthers Fragen in einer säkularisierten Gesellschaft

Es ist eben schwierig, an eine Reformation zu erinnern, die in sich beendet scheint. Sie wurde vor allem durch die Rahmenbedingungen der damaligen Zeit ermöglicht. Denn wäre die katholische Kirche nicht durch interne Streitigkeiten abgelenkt gewesen oder hätten die Türken 1529 nicht vor Wien gestanden und die Habsburger beschäftigt, hätte Johann Gutenberg nicht den Buchdruck erfunden und wäre der Humanismus nicht in der Entwicklungsstufe gewesen, in der er war. Dann wäre es Luther wohl wie anderen Reformatoren ergangen, zum Beispiel Jan Hus. Wir wären vielleicht heute weiterhin alle katholisch und Luther wäre Beispiel eines kleinen Häretikers. Die Zeit war eben reif und verdammt günstig.

Eine weitere Schwierigkeit des Reformationsfestes liegt in der Frage, die Luther damals bewegte: „Wie erhalte ich einen gnädigen Gott?“ Was muss ich dafür letztlich tun oder kann ich überhaupt etwas tun? Die Antwort darauf – „allein aus Glauben“ – interessiert heute nur noch wenige Menschen. Erschreckenderweise nicht einmal den Großteil der Protestanten, die ja qua Konfessionszugehörigkeit zumindest in reformatorischer Tradition stehen müssten. Es ist eben nicht mehr die Zeit, möchte man fast antworten. Denn es wäre realitätsfern zu ignorieren, dass natürlich unterschiedliche Zeiten unterschiedliche Fragen in einer Gesellschaft aufwerfen. In einer postmodernen Welt, in der wir per Fingerdruck auf dem Smartphone eine künstliche Intelligenz bedienen können, die auf fast jede Frage eine differenzierte Antwort gibt, wirkt die Frage nach einem gnädigen Gott anachronistisch. Viele Menschen sehen, berechtigterweise, keine Relevanz mehr für ihr eigenes Leben darin.

Es geht darum, erlernte Glaubenssätze zu hinterfragen

Natürlich, zur Zeit Luthers, als durch den dogmatischen Druck diese Frage nicht nur für das eigene Leben, sondern, geglaubt, auch für die Seelen der Verstorbenen relevant war, hatte die Auflehnung gegen den Ablasshandel Sprengkraft. Es ging um Machtkritik und persönliche Erlösung.

 

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Und wie sieht es heute aus? Der Glaube an einen Gott, der sich vor 2000 Jahren in einem Menschen, geboren von einer Jungfrau, offenbarte, dessen Tod Teil eines göttlichen Heilsplans war, um uns Menschen von der Sünde zu befreien – das verstehen heute nur noch wenige. Es glauben auch nur noch wenige. Es braucht viel Vorwissen und verschachtelte Argumentation, um Menschen, die nicht mehr christlich sozialisiert wurden – und das ist die Mehrheit – von diesem Glaubensgebäude zu überzeugen.

Es verwundert also nicht, dass das geflügelte Wort in vielen christlichen Kreisen, zumeist online ,momentan nicht „Reformation“, sondern „Dekonstruktion“ ist. Dekonstruktion ist kein Sehnsuchtswort, sondern ein Akt der Selbstermächtigung. Es geht darum, erlernte Glaubenssätze zu hinterfragen. Dekonstruktion ist Ausdruck einer intensiven und ehrlichen Glaubenssuche, deren Ausgang offen ist und die es wagt, Selbstverständliches infrage zu stellen.

Die Suche nach dem Sinn bleibt

Sie ist aber auch das Resultat eines Versäumnisses der Kirche, moderne theologische Erkenntnisse praktisch umzusetzen, sodass sie für Gemeindemitglieder greifbar und nachvollziehbar werden.

Denn – davon bin ich überzeugt – auch wenn es nicht mehr die Suche nach einem gnädigen Gott ist, die die Menschen antreibt, so bleibt doch die Suche nach Sinn und Angenommensein in einem Glaubensrahmen, der leb- und erlebbar ist in einer postmodernen Welt und in ihr tragfähig bleibt. Die Aufgabe der Kirche wäre es, diese Prozesse sinnvoll zu begleiten.

Was den Glauben angeht: Es geht nicht nur darum, das Haus neu anzustreichen, sondern an die Substanz zu gehen. Liebgewordene Wände müssen eingerissen und neu aufgebaut werden. Das erfordert kritisches Hinterfragen und das Fallenlassen von alten dogmatischen Überzeugungen sowie eine gänzlich neue Interpretation der Geschichte dieses Menschen aus Nazareth.

Und somit ist die Dekonstruktion doch etwas sehr Evangelisches an sich – denn, wie beschrieben: Dekonstruktion ist das Hinterfragen von religiösen Überzeugungen und Traditionen. Nichts anderes hat Luther getan.