Artikel teilen

Ein Neurologe auf der Suche nach den eigenen Erinnerungen

Das Gedächtnis zu verlieren, ist eine beängstigende Erfahrung. Neurologen wie Magnus Heier kümmern sich um Betroffene. Vor fünf Jahren lernte er die andere Seite kennen.

Hat der vorübergehende Gedächtnisausfall Spuren hinterlassen? Magnus Heier im MRT
Hat der vorübergehende Gedächtnisausfall Spuren hinterlassen? Magnus Heier im MRTSWR / Michael Kern

Wenn ausgerechnet ein Neurologe einen Gedächtnisverlust erleidet, dann will er dem unbedingt nachgehen. Magnus Heier, von Berufs wegen Experte fürs menschliche Gehirn, begibt sich in einer Dokumentation auf Spurensuche in eigener Sache. Arte zeigt “Gedächtnisverlust – Wenn das Gehirn plötzlich streikt” am 26. Oktober um 21.45 Uhr. Für den Neurologen und Ich-Erzähler des Films wird der Vorfall zu einer Expedition in die Welt menschlicher Erinnerungen.

Als sein Gedächtnis ohne jede Vorwarnung aussetzte, war Magnus Heier 57 Jahre alt und gerade mit seiner Familie beim Paddeln in Finnland. Rund fünf Jahre ist dieser Urlaub nun her. Damals hatte Magnus eine sogenannte transiente globale Amnesie, kurz TGA. Dabei kann das Gehirn bis zu 24 Stunden lang keine Erlebnisse mehr abrufen: Alles, was der Neurologe tat, wie beispielsweise die Bitte um einen Kaffee, hatte er nur Sekunden später wieder vergessen – und bat erneut darum. Bei ihm waren es exakt acht Stunden, in denen seine Erinnerungen “verschwunden” waren.

Arte-Doku: Magnus Heier auf der Suche nach seinem Gedächtnis

In der Dokumentation macht Heier sich auf die Suche nach seinem Gedächtnis. Er will begreifen, was damals geschah und warum ihn die verlorenen Stunden bis heute beschäftigen. Seine Doku-Reise entstand zusammen mit der Stuttgarter Filmemacherin Susanne Rostosky (Buch und Regie). Sie führt den Neurologen aus Castrop-Rauxel zuerst zurück nach Finnland, danach quer durch Deutschland und bis nach Italien.

Zunächst trifft Heier seinen behandelnden Notarzt Mikko Fransilla vom südfinnischen Zentralkrankenhaus Kanta-Häme wieder. “Meine finnischen Ärzte haben mir gesagt, dass ich überhaupt kein Patient bin und dass ich auch keine Krankheit habe”, erinnert sich Heier im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Vielmehr habe er ein Phänomen erlebt, “was ich einfach unter spannend oder bizarr abspeichern soll”. Heier selbst empfand sich als Intensiv-Patienten, aber man habe ihm schnell das Gefühl gegeben, nicht krank und gesundheitlich gefährdet zu sein.

Max Rinneberg verliert nach einem Unfall-Sturz alle Erinnerungen

So beunruhigend die Erfahrung auch ist – das Phänomen an sich sei harmlos, wie auch die Neurowissenschaftlerin Magdalena Sauvage sagt, die am Magdeburger Leibniz-Institut für Neurobiologie forscht. Mit ihrer Expertise hat Sauvage einige der Geheimnisse des menschlichen Gedächtnisses entschlüsselt und berichtet im Film darüber. Derweil unterzieht sich Heier vor laufender Kamera einer Magnetresonanztomographie und schläft in einem Schlaflabor mit Elektroden auf dem Kopf.

Das menschliche Gedächtnis ist viel mehr als ein Wissensspeicher
Das menschliche Gedächtnis ist viel mehr als ein WissensspeicherSWR / Karsten Ridder & Magnus Heier

Die Filmemacherin fand indes besonders die Begegnung mit dem schüchternen “Super-Gedächtnis” Giovanni Gaio in Norditalien beeindruckend. Gaio erinnert sich exakt an jeden einzelnen Tag seines Lebens. Heier wiederum ist fasziniert von Max Rinneberg. Nach einem Unfall-Sturz vor 17 Jahren hat dieser alle Erinnerungen verloren und musste sich komplett neu erfinden. Statt Steuerberater ist der Hesse nun Zigarrenverkäufer, spielt statt Fußball heute leidenschaftlich Golf.

Menschliches Gedächtnis ist das Fundament der eigenen Identität

Nach und nach wird in der interessant aufbereiteten Dokumentation deutlich, dass das menschliche Gedächtnis viel mehr ist als ein Wissensspeicher – es ist das Fundament der eigenen Identität. Fällt das Erinnerungsvermögen wie bei Max Rinneberg komplett aus, bleibt nur ein Schatten des Selbst zurück.

Der Film ist ein aufwändig gedrehtes Roadmovie über das Gedächtnis, das tiefe Einblicke in die Leistung des Gehirns gibt. Er kommt federführend vom Südwestrundfunk und wird läuft als Erstausstrahlung beim Co-Produzenten Arte. Heier ist es ein Anliegen, eine vorübergehende Störung der Merkfähigkeit bekannter zu machen, um Ängste davor zu nehmen. Auch Mediziner hätten das Phänomen nicht immer auf dem Schirm.

Für Filmemacherin Rostosky steht im Vordergrund, was Magnus im Off-Text am Ende des Films sagt: “Was in unserem Gehirn passiert, wenn es eine Erinnerung anlegt, immer weiter festigt und irgendwann vielleicht wieder aufruft, ist unglaublich komplex.” Für Rostosky grenzt es an ein Wunder, dass das Gehirn dazu in der Lage ist, seine 86 Millionen Nervenzellen so zu organisieren, dass das tatsächlich klappt.

“Gedächtnisverlust – Wenn das Gehirn plötzlich streikt”: Am 26. Oktober um 21.45 Uhr auf Arte