Es war ein kurzer Moment scheinbar grenzenloser Freiheit, als 1989 die Berliner Mauer fiel. Kreativität und Feierfreude keimten auf – aber auch politischer Größenwahn, Verdrängung ostdeutscher Identität und Renditegier.
Es herrschte “Endzeit- und Aufbruchstimmung zugleich”, erinnert sich der einstige Hausbesetzer Alexander Sandy Kaltenborn an die ersten Monate nach dem Mauerfall. Als im November 1989 die Berliner Mauer fiel, schuf dies eine nie da gewesene Situation: logistische Herausforderungen, Chaos, Lebensbrüche, Neugier auf allen Seiten – aber auch große Inseln von Freiheit und unreguliertem öffentlichen Raum. Was zu Kreativität und explodierender Feierfreude führte – aber auch zu Gier, Korruption und maßloser persönlicher Bereicherung.
Die fünfteilige Dokuserie “Capital B – Wem gehört Berlin?”, die Arte am 3. und 4. Oktober jeweils ab 20.15 Uhr ausstrahlt, beleuchtet jene schillernde, spannende Zeit. Die Atmosphäre jener Monate und Jahre einzufangen, gelingt Filmemacher Florian Opitz, seinem Co-Autor David Bernet und der Editorin Annette Muff in einer meisterhaften Collage aus Archivaufnahmen und aktuellen Interviews.
Mit der ersten Folge, “Sommer der Anarchie”, werden die Grundperspektiven der Serie gelegt: der Blick in die “kleine” Subkultur wie auf die “große” Politik. Diese beiden scheinbar unvereinbaren Bereiche erscheinen hier freilich nicht als kühle Gegensätze, sondern in einer fast organisch wirkenden Montage gewissermaßen als zwei Seiten derselben Medaille. Als einander entgegengesetzte Pole, an denen die Ausschläge jener Umbruchszeit so eindrücklich wie fesselnd abzulesen sind.
Damit erzählt die facettenreiche Produktion von Idealismus und Renditegier, von Momenten schier endloser Freiheit wie von Gentrifizierung, vom Identitätsverlust zahlreicher Ostdeutscher und der offensichtlichen Dominanz des Westens, von politischer Großmannssucht und aufkeimendem Nationalismus.
“Capital B” beleuchtet die Szene der Hausbesetzer wie jene des aufkommenden Techno, findet dazu eloquente, interessante Gesprächspartner wie den eingangs erwähnten Kaltenborn, die Love-Parade-Pionierin Danielle de Picciotto oder Johnnie Stieler und Dimitri Hegemann, die 1991 den Kult-Club “Tresor” mitbegründeten.
Auch bei der Vorstellung der Interviewten bleibt die Serie ihrer jeweils erzählten Zeit verhaftet: Die werden mit ihrer damaligen Berufsbezeichnung präsentiert, also etwa als “Auszubildender” oder “Schülerin” – nicht als die (teils) bekannt gewordenen Techno-Größen und Künstlerinnen, die sie heute sind. Ein interessantes Element, das den Effekt verstärkt, wirklich “einzutauchen” in jene Berliner Jahre.
Auch aufseiten von Politik und (Bau-)Wirtschaft konnte Florian Opitz die wichtigsten Player dieser Umbruchszeit interviewen: den kurz nach der Wende angetretenen CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen und dessen Wegbereiter, den berüchtigten Klaus-Jürgen Landowsky. Renate Künast und Wolfgang Wieland von der zur Zeit des Mauerfalls im (West-)Berliner Rathaus mitregierenden “Alternativen Liste”. Den Bauunternehmer Roland Ernst und den späteren SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit. Bezeichnend, wie hier einzig der Immobilieninvestor Ernst Einsicht zeigt, Fehler zugibt. Vor allem die Parteifreunde Diepgen und Landowsky versuchen massive politische Fehlentscheidungen – etwa in Sachen Berliner Bankgesellschaft – kleinzureden, erscheinen dabei teils geradezu störrisch.
Wesentlichen Anteil an der Eindrücklichkeit der Dokuserie trägt die Cutterin Annette Muff, die “Capital B” mit ihrem souveränen Schnitt einen ganz eigenen, Atmosphäre und Sog erzeugenden Rhythmus gibt. Faszinierend, wie sich durch die geschickte Montage teils fast so etwas wie Gespräche zwischen den verschiedenen Interviewpartnern zu entwickeln scheinen! Auch die gerade in ihrem Gegensatz zu den durchaus “wild” montierten Archivbildern sehr klare Kameraarbeit in den Interviews überzeugt.
Der bestechend gut montierte Vorspann wiederum bildet im Zusammenspiel mit der Berlin-Hymne “Schwarz zu Blau” von Peter Fox ein eigenes kleines Kunstwerk; überhaupt unterstützt die Musikspur stimmig die Erzählebene und transportiert nebenbei den typischen Berliner Sound, allen voran Techno und Gangsta-Rap. Ein so dichtes wie intensives Porträt einer Stadt im Ausnahmezustand.