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Arbeitspsychologe: Unbezahlte Karenztage langfristig schädlich

Die Diskussion um Lohnausfälle am ersten Krankheitstag geht munter weiter. Der Arbeitspsychologe Tim Hagemann hält nicht viel von dem Vorstoß. Doch er hat Vorstellungen, wie es künftig besser laufen könnte.

Die Einführung des unbezahlten Karenztag im Falle einer Krankmeldung würde sich nach Worten des Forschers Tim Hagemann negativ auf die Unternehmenskultur in Deutschland auswirken. “Wenn jemand auffallend oft fehlt und der Verdacht besteht, dass jemand blaumacht, muss man als Führungskraft Gespräche führen, da kann ich nicht alle unter Generalverdacht stellen”, sagte der Arbeitspsychologe der Diakonie Bielefeld der “Süddeutschen Zeitung” (Freitag).

Letztlich werde damit nur Präsentismus erreicht, also dass sich Beschäftigte trotz Krankheit genötigt sehen, zur Arbeit zu erscheinen, mahnte Hagemann. Besonders betroffen seien dann chronisch kranke Menschen, die unter Diabetes, Migräne, psychischen Erkrankungen oder anderen körperlichen Einschränkungen litten. “So bestraft man jene, die ohnehin gesundheitlich angeschlagen sind oder gering bezahlt werden”, betonte der Forscher. “Der Paketbote würde die Pakete trotz Rückenproblemen schleppen, die Kassiererin die Kunden mit ihrem Schnupfen anstecken.”

Die Debatte um die Einführung des unbezahlten Karenztages hatte sich zuletzt an einem entsprechenden Vorstoß des Vorstandsvorsitzenden der Allianz-Versicherung, Oliver Bäte, entzündet. Der Versicherungschef hatte den in Deutschland vergleichsweise hohen Krankheitsstand bei Arbeitnehmern bemängelt. Zahlreiche Politiker, darunter die Bundesminister Hubertus Heil und Karl Lauterbach, haben bereits Kritik an dem Vorschlag geäußert. Arbeitgebernahe Verbände wie der Bund Katholischer Unternehmer nahmen ihn hingegen zum Anlass, für eine generelle Neuregelung der Lohnfortzahlung für Beschäftigte an Krankheitstagen zu werben.

Hagemann plädierte für einen flexibleren Umgang mit Krankheit, insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. “Gerade im Alter bewegen wir uns zunehmend in einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, sind also weder richtig krank noch vollständig gesund”, erklärte der Psychologe. Dieser Zwischenbereich eröffne aber neue Möglichkeiten in der Unternehmenskultur. “Zum Beispiel, ob man es dem Kranken überlässt, das selbst zu entscheiden. Ob es möglich ist, auch einmal stundenweise zu arbeiten.” Es müsse weiter gedacht werden, als nur in den Kategorien “krank” und “gesund”.