Die Ansichten des umstrittenen Sexualwissenschaftlers Helmut Kentler dienten einem Netzwerk als Grundlage für sexuelle Gewalt an Jugendlichen. Auch Vertreter der Heimreform gehörten zu den Akteuren.
Das Berliner Landesjugendamt war ebenso wie Vertreter der Heimreform Teil eines Netzwerkes, das deutschlandweit sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ermöglichte. Das ist das Ergebnis einer Studie zum Wirken des umstrittenen Sexualpädagogen Helmut Kentler (1928-2008), die die Berliner Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) am Freitag zusammen mit Forschern der Universität Hildesheim vorstellte.
Im Auftrag des Landes Berlin vermittelte der Psychologe und Sexualwissenschaftler Kentler von Ende der 1960er Jahre bis zum Anfang der 2000er Jahre als “Experiment” Pflegekinder an pädophile Männer. Er schaffte es, das Berliner Landesjugendamt, andere Jugendämter in Westdeutschland sowie weitere wissenschaftlichen Institutionen und Fachgesellschaften davon zu überzeugen. Kentler setzte sich für die Legalisierung von Pädosexualität ein.
Neben Berlin als zentralem Knotenpunkt seien auch Göttingen, Hannover, Lüneburg, Tübingen und Heppenheim als Orte “strukturellen Machtmissbrauchs” identifiziert worden, heißt es in der Studie. “Der Ergebnisbericht ist ein weiterer Schritt in der notwendigen Aufarbeitung, denn das Leid der Betroffenen ist unermesslich und wirkt ein Leben lang”, sagte die Senatorin. Die Forschung habe einen Beitrag dazu geleistet, die Mechanismen zu verstehen, die solchen Missbrauch ermöglichten.
Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs forderte ebenfalls auf Basis der Studie weitere Aufklärung: “Der Bericht zeigt ein breites, weit über Berlin hinausgehendes sich gegenseitig stützendes und schützendes Netzwerk auf, das die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte ermöglichte. Es wird zudem deutlich, wie wirkmächtig diese Strukturen bis heute sind.”
Die Ergebnisse des Berichts verdeutlichen laut Kommission einmal mehr, wie notwendig und wichtig es ist, auf der Grundlage eines Gesetzes die Rechte Betroffener zu stärken und die Pflicht von Institutionen zur Aufarbeitung klar zu regeln. Dazu gehöre auch ein gesetzlich verankertes Recht auf Akteneinsicht: “Dadurch können sowohl das geschehene Unrecht belegt als auch Täter und Täterinnen und deren Netzwerke sichtbar werden.”
Vertreter der Heimreform wollten sich in den 1970er und 80er Jahren bewusst vom autoritären Erziehungsstil früherer Zeiten abgrenzen. Dem Ergebnisbericht zufolge vereinnahmten die Akteure des Netzwerkes die Bewegung der Heimreform für eigene Zwecke. Die fachliche Komponente der Heimerziehung sei dabei nachrangig gewesen.
Der Ergebnisbericht basiert den Angaben der Forscher zufolge auf Berichten von Betroffenen. Darüber hinaus seien Zeitzeugen interviewt sowie Akten und der fachöffentliche Diskurs analysiert worden.
Zu Beginn der 1960er-Jahre war Kentler auch in Einrichtungen der evangelischen Kirche tätig. Die evangelische Landeskirche in Bayern hatte 2021 angekündigt, mit Blick auf das “Kentler-Experiment” Hinweise aufzuarbeiten. Zugleich hatte sie sich für einen kritiklosen Umgang mit seinen Thesen entschuldigt. Man wolle dessen Wirken als pädagogischer Referent des Studienzentrums für evangelische Jugendarbeit in Josefstal von 1962 bis 1965 mit ihm aufklären.