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Zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht

Alle vier Jahre lädt die nordenglische Stadt York ein zu den „Mystery Plays“. Am 9., 12. und 16. September ist es wieder soweit. Dann wird auf mobilen Bühnen rund um das Münster die biblische Botschaft in mehreren Aufführungen farbenfroh inszeniert

Langsam wächst die Welt, senken sich die Gestirne an langen Schnüren auf die Bühne. Publikumsliebling aber ist der Fisch aus Pappe, der mit Wasser um sich spritzt. So bunt und munter stellte man sich einst die Schöpfung vor. Die biblische Botschaft von der Erschaffung der Welt, die alle vier Jahre – in diesem Jahr am 9., 12. und 16. September – bei den „Mystery Plays“ im nord­englischen York Gestalt gewinnt. Dann lebt das Mittelalter neu auf, geben die Bürger der Stadt Einblick in die Kindertage englischer Bühnenkunst, die heute wie damals auf kleinen Wagen präsentiert wird. Auf mobilen Bühnen, die rund um das Münster Station machen, Englands größtem gotischen Gotteshaus.
Römer, Wikinger und Sachsen drückten York ihren Stempel auf. Mittelalterliche Gassen mit kleinen Geschäften und Cafés erinnern an die Blütezeit der einstigen Handels- und Hafenmetropole. Schon im 15. Jahrhundert kontrollierten ein halbes hundert Gilden, einflussreiche Handwerks- und Handelsorganisationen, das Wirtschaftsleben. Sie auch förderten die Mystery Plays, zehn- bis 30-minütige Kurzdramen, die von der Erschaffung der Welt erzählten, von Jesu Leiden und den Qualen des Jüngsten Gerichts. Von Menschen wie dem vom Tod auferstandenen Lazarus, von Adam und Eva oder Noah, der samt Tieren in der Arche vor der Sintflut Zuflucht suchte. Gut 50 solcher Kurzgeschichten gibt es, rund 14 000 Zeilen in fast zwei Dutzend verschiedenen Versmaßen.
1951 wurden die Mystery Plays nach vielen hundert Jahren Pause wiederbelebt. 1568 nämlich hatten die Protestanten die Spiele verboten. Zu oft hatten die Aufführungen, die traditionell zu Fronleichnam stattfanden, ihr Ende in feucht-fröhlichen Gelagen gefunden, mussten die Ordnungshüter einschreiten. Auch den Neubeginn sah die Kirche nicht gern. Um so erstaunlicher war die Publikumsresonanz. 26 000 Zuschauer sahen die Vorstellungen in den Ruinen der Marienabtei, wo die Spiele bis 1988 über die Bühne gingen. Heute inszeniert man nicht mehr an einem festen Spielort, sondern wieder wie einst im Mittelalter auf beweglichen Bühnen.
Wichtigster Motor der Bühnenspiele sind die „Guilds of York“ geblieben. Sieben alte Handwerks- und Handelsorganisationen, die zu jeder Aufführung ihre Standeszeichen stolz zur Schau tragen, kostbare Hermelinmäntel und prunkvolle Zunftstäbe. Viele verfügen über ein eigenes Vereinsheim. Das der „Merchant Adventurers“, die bei den Mystery Plays traditionell für die Darstellung des Jüngsten Gerichts verantwortlich zeichnen, steht mitten in der Stadt. Ein Prachtbau aus dem 14. Jahrhundert.
Carolin ist eine von vielen hundert Frauen, Männern und Kindern, die beim Straßentheater mitmachen. Geschichtsstudentin aus Deutschland und eine der Verantwortlichen in Noahs Arche. Früher, weiß die Historikerin, waren die Wagen zweigeteilt, der Unterbau so eine Art Umkleide- und Requisitenkammer. Auf der Bühnenebene darüber wurde gespielt.
Wie Miriam sind viele der Akteure Fachleute, angehende Dramaturgen etwa, Regisseure, Theaterexperten oder Mittelalterforscher, die in den Mystery Plays ein Stück angewandte Wissenschaften sehen. Auch mancher Handwerker freut sich, beim Bau der mobilen Bühnen gelerntes Können zu beweisen. Ein Glücksfall auch ist die musikalische Gestaltung, sind die Stücke doch heute in das „Festival früher Musik“ eingebettet, das viele Dutzend Spezialisten nach York treibt. Besessene mit alten Instrumenten, die Musik so klingen lassen wie damals. Doch während der Sound im heutigen Theater die wichtigsten Szenen effektvoll unterstreicht, markierte die Bühnenmusik im Mittelalter nur Anfang und Ende jeder Aufführung, unterstrich allenfalls den Szenenwechsel. Pure Harmonien machten dem Betrachter klar, dass man jetzt im Himmel ist, schrille Dissonanzen wiesen den Weg zur Hölle.
Bis zu 14 Stunden dauerten die Aufführungen früher, doch soviel Zeit nimmt man sich heute nicht mehr. Im Garten des Yorkshire Museums endet der biblische Reigen, stellen sich Gerechte und Verdammte dem Jüngsten Gericht. Zwei Paare, die äußerlich keinen Unterschied machen. Schließlich aber verdrückt sich das eine mit einem Geldkoffer unter den Zuschauern, bleibt das andere betend vor Gott, dem Weltenrichter, stehen. Yorks Mystery Plays sind zu Ende.

Die „Mystery Plays“ am 9., 12. und 16. September beginnen um 12 Uhr im Münsterhof (Dean‘s Garden) und enden gegen 18.30 Uhr in Yorkshires Museums Gardens. Dort auch stehen kostenpflichtige Tribünen, die Hörgenuss und gute Sicht garantieren. Auf dem Programm stehen zwölf Kurzdramen aus dem Gesamtzyklus, ein Dutzend Geschichten vom Fall der Engel bis zum Jüngsten Gericht. Information: www.yorkmysteryplays.org ;www.visityork.org.