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Zwischen Angst und Anklage

Als am Dienstagabend die Podiumsdiskussion über „Die Situation jüdischer Studierender an deutschen Universitäten“ endet, verlassen viele Zuhörer den Hörsaal durch einen Notausgang. Es gibt zwar keinen Notfall – zehn Polizisten sichern das Foyer des Tübinger Theologicums -, aber vor den Schreien können sie sich nicht schützen. „Blut, Blut, Blut an euren Händen!“, rufen Demonstranten mit orangefarbenen Warnwesten und Palästinaflaggen. So laut, dass auch hinter den Bücherregalen in der angrenzenden Bibliothek kaum an Arbeit zu denken ist. Anderthalb Jahre nach dem Angriff der palästinensischen Terrorgruppe Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben die Emotionen kein Stück nachgelassen. Angst, Verzweiflung und Wut gleichermaßen. Und noch immer fragt sich die Universität, wie viele dieser Emotionen in ihren Hörsälen Platz finden können.

578 Tage Krieg. Diese Zahl lässt auch Juden außerhalb Israels nicht los. „Viele von uns haben ja auch Familien dort“, sagt Jule-Valentina Schäfer. Die 23-Jährige studiert in Tübingen und trägt einen goldenen Davidstern um den Hals. Allerdings nicht, wenn sie über den Uni-Campus läuft. Denn sie fürchtet sich davor, unmittelbar als Jüdin erkannt und „als Botschafter des Staates Israel gesehen“ zu werden. Denn dann seien die persönlichen Anfeindungen nicht fern.

Gut 100 Menschen sind gekommen, um sich gegen diese „Kampagne“ zu wehren. „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Heimat klaut“, lautet einer ihrer Sprechchöre. Interessant ist, dass auch diese Gruppe ein gesellschaftliches Antisemitismus-Problem sieht. Sie meint aber, dass die „Deutsch-Israelische Gesellschaft Stuttgart“(DIG), Organisatorin des Abends, zu einseitig sei, um ernsthaft über Antisemitismus zu sprechen.

„Diese Veranstaltung hat nicht zu meiner Sicherheit beigetragen“, sagt ein Redner des Vereins Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, der Teil der Demonstration ist, in Bezug auf die DIG-Veranstaltung, die noch nicht einmal angefangen hat. Seiner Rede folgt ein weiterer Sprechchor: „Zionismus ist Faschismus!“

Eine Stunde später, bei der Podiumsdiskussion, versucht Uni-Vizekanzler Jürgen Rottenecker, den Emotionen der Studenten nüchtern zu begegnen: „Ich fühle mich eigentlich in einer guten Situation, dass ich bislang in Tübingen keinen Antisemitismus wahrgenommen habe.“ Die Universität sei ein akademisch-neutraler Ort und verfüge über gute Beschwerdestrukturen, die allerdings kaum genutzt würden. „Wir alle“, so Rottenecker, „überschätzen vielleicht, wie viele Personen sich tatsächlich zu Wort melden.“ Einige Beschwerden gingen zudem nur anonym ein und seien daher kaum nachzuverfolgen.

Als sich die Podiumsdiskussion der Frage widmet, wo genau Antisemitismus anfängt, will sich ausgerechnet der Mann, der das Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen leitet – Professor Stephan Grigat – nicht auf eine klare Definition festlegen. Eine einzelne Antisemitismus-Definition hält er nicht für sinnvoll. Gesichert sei aber, dass viele „propalästinensische Proteste“ den Judenhass palästinensischer Vorbilder reproduzierten. Auch die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, die bei der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet ist, sei bei vielen Demonstranten wegen ihrer Entstehung aus der politischen Linken beliebt. Sie bezeichnet Grigat als „mittlerweile eindeutig antisemitische Mörderbande“.

Viel Beifall erhält ein Redebeitrag, der die große Anzahl von Aufklebern in Universitätsgebäuden anprangert, auf denen „Israel dämonisiert wird“. Obwohl das Gelände groß ist, sorgen die Aufkleber dafür, dass die Wut einiger Studierender beinahe allgegenwärtig ist.

Während die Diskussion für alle Besucher geöffnet wird, skandieren die Demonstranten im Foyer weiter ihre Sprechchöre. Die Initiatoren der Kundgebung hatten dazu aufgerufen, bis zum Ende der Veranstaltung zu bleiben – allerdings nicht im Hörsaal, sondern nur davor. Für die wohl einzige Annäherung an diesem Abend sorgt der Vizekanzler, der als einer der letzten das Gebäude verlässt, nachdem er sich ausführlich die Sorgen vieler jüdischer Studenten angehört hat, die bei der Podiumsdiskussion waren. Ganz persönlich und ohne Anonymität. (1043/07.05.2025)