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Wohnungslosigkeit in Berlin: „Housing First“ hilft

„Housing First“ ist eine Alternative zum herkömmlichen System von Notunterkünften und vorübergehender Unterbringung Wohnungsloser. Zu Besuch bei einem Berliner Projekt.

Im Juni 2024 wurde der 100. Mietvertrag an eine wohnungslose Frau vermittelt. Zu diesem Anlass besuchte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, das Team von Housing First für Frauen am Standort in Berlin-Kreuzberg
Im Juni 2024 wurde der 100. Mietvertrag an eine wohnungslose Frau vermittelt. Zu diesem Anlass besuchte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, das Team von Housing First für Frauen am Standort in Berlin-KreuzbergSkF e.V. Berlin

Bezahlbarer Wohnraum ist ein knappes Gut. Das spüren auch die Wohnungsscouts der sechs Berliner Housing-First-Projekte. „Es ist schwierig, eine Wohnung zu finden“, sagt Esther Köb-Koutsamanis vom Sozialdienst katholischer Frauen e.V. Berlin (SkF). Sie ist in dem Projekt mit je einem Standort in den Berliner Stadtteilen Wedding und Kreuzberg für die Öffentlichkeitsarbeit und die Wohnraum­akquise für obdachlose Frauen zuständig. Trotzdem blickt das zehnköpfige Team auf ein erfolgreiches Jahr zurück: 2023 wurden 35 Mietverträge abgeschlossen. „So viele wie noch nie.“ Seit Projektstart 2018 konnten 109 Frauen eine Wohnung beziehen; 32 sind in Vorbereitung auf einen Mietvertrag. „Täglich kommen Anfragen von Frauen, per E-Mail, über das Kontaktformular auf der Webseite, die Hilfe brauchen.“

Konzept für “Housing First” aus USA

Die Idee stammt ursprünglich aus New York. 1992 gründete der Psychologe Sam Tsemberis die Organisation „Pathways to Housing“ („Wege zum Wohnen“), die wohnungslosen Menschen als Erstes ein eigenes Zuhause vermittelt und sie dann so lange unterstützt, wie sie Hilfe benötigen. Inzwischen hat sich Housing First in 15 europäischen Ländern etabliert.

„Alle Housing-First-Projekte in Berlin haben eine spezielle Zielgruppe: Es sind Personen, die von anderen Hilfen bisher nicht erreicht wurden, die immer noch erfolglos auf Wohnungssuche sind oder sich nicht selbst um Wohnraum kümmern können“, so Köb-Koutsamanis. „Viele Frauen darunter sind verdeckt obdachlos.“ Und manchmal durch den Partner oder eine Zweckgemeinschaft „akut von Gewalt bedroht“. „Wir versuchen, dass sie so schnell wie möglich aus dieser Situation herauskommen und verweisen auch an andere Hilfen in Berlin.“

Pilotprojekt überzeugte

Von 2018 bis 2021 förderte die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales im Rahmen des „Masterplans zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030“ zwei Modellprojekte: „Housing First für Frauen Berlin“ richtet sich in Trägerschaft vom SkF an obdachlose Frauen – ab Januar 2023 auch an Mütter mit Kindern –, das zweite Projekt in Kooperation der Berliner Stadt­mission mit Neue Chance gGmbH, „Housing First Berlin“, spricht erwachsene wohnungslose Menschen jeglichen Geschlechts an. Das Pilotprojekt überzeugte auch in der Evaluation, sodass der Senat inzwischen vier weitere Housing-First-Angebote finanziert.

Sebastian Böwe ist seit 24 Jahren in der Wohnungslosenhilfe tätig – und „ab Tag eins“ bei „Housing First Berlin“ dabei. „Ich suche seit 24 Jahren Wohnungen für Menschen, die keine haben“, sagt er. „Aber seit Oktober 2018 das erste Mal nicht für einen Sozialträger, sondern direkt für Menschen, die von der Straße kommen, obdachlos sind und in einen eigenen Mietvertrag vermittelt werden.“ Das Team besteht aus 13 Mitarbeitenden, darunter zwei Peers (Gleichwertige, Ebenbürtige) als Sozial­betreuer, die vorher zehn Jahre auf der Straße gelebt haben. „Sie bringen ihre Erfahrung mit, sind authentisch und haben eine ganz andere Ansprache an die Menschen.“

Grundprinzip: Unterstützung solange wie nötig

Zu den „Wohnungsgebern“ gehören fünf städtische Wohnungsbaugesellschaften, vier davon stellen ein Kontingent von fünf bis zehn Wohnungen pro Jahr bereit, zwei börsennotierte Unternehmen, Vonovia und Deutsche Wohnen, sowie zwei Wohnungsbaugenossenschaften und einige Privatvermieter. Die Nachfrage sei groß: „Unsere Warteliste ist – mit 400 Menschen darauf – geschlossen.“ 78 Personen zwischen 29 und 72 Jahren, darunter 18 Frauen, wurden seit Oktober 2018 in das Housing-First-Projekt aufgenommen. „Das klingt nicht viel“, sagt Böwe. „Aber wir arbeiten ja allumfassend mit den Menschen weiter. Wir schleusen sie nicht durch.“ Das sei eines der acht Grundprinzipien von Housing First: „Unterstützung so lange wie nötig und wie gewünscht.“ Die Miete übernimmt das Jobcenter oder Sozialamt.

Bisher kein Rechtsanspruch

„Housing First ist mittlerweile ein Begriff geworden“, so Böwe. „Ich finde es toll, dass das Konzept als Teil des Nationalen Aktionsplans gegen Wohnungslosigkeit in der Politik angekommen ist“, sagt Esther Köb-Koutsamanis. „Wir sind ein wichtiger Baustein von vielen.“ Aber immer noch alle zwei Jahre über den Berliner Haushalt zuwendungsfinanziert und damit eventuell von Sozialkürzungen bedroht. „Es gibt noch keinen Rechtsanspruch auf Housing First“, betont Böwe. „Wir wären gern in der regulären Förderung nach dem Sozialgesetzbuch.“